Endlich wieder stehen und gehen

Eine von Westschweizer Forschern entwickelte «elektronische Brücke» zwischen Gehirn und Rückenmark macht Menschen mit Querschnittlähmung Hoffnung.

Text: Nicole Krättli; Foto: NeuroRestore

Zehn Jahre nachdem ein Dreifachsalto David Mzee in den Rollstuhl gezwungen hatte, sorgte der querschnittgelähmte Sportlehrer für aussergewöhnliche Schlagzeilen. Beim «Wings for Life World Run 2020» ging der Tetraplegiker 467 Meter zu Fuss, bevor er sich müde, aber glücklich in seinen Rollstuhl fallen liess. Er erreichte damit einen persönlichen Rekord: Seit seinem Unfall war er nie weiter und länger auf den eigenen Beinen unterwegs gewesen.

Möglich wurde das dank einer Rückenmarkstimulation, bei der elektrische Impulse die durchtrennten Verbindungen zwischen den noch bestehenden Nervensträngen und dem Gehirn wiederherstellen. Vereinfacht formuliert, entsteht dadurch eine Lichtbrücke zwischen den verletzten Stellen im Rückenmark, die eine Kommunikation zwischen Gehirn und Extremitäten ermöglicht. Dank dieser Brücke kommt etwa der Befehl: «Fuss bewegen!» auch tatsächlich am richtigen Ort an und löst die gewünschte Bewegung aus.

«Je öfter trainiert wird, desto stärker werden die Muskeln. Trotzdem sollte man den Körper nicht überbelasten»
Léonie Asboth, Head of Clinical Division von NeuroRestore

Auf Augenhöhe

Léonie Asboth, Head of Clinical Division von NeuroRestore, leitet die damit verbundene klinische Studie (STIMO) am Universitätsspital Lausanne und konnte zahlreiche Studienteilnehmende nach Jahren im Rollstuhl bei den ersten Schritten beobachten. «Dass die Betroffenen mit ihren Partnern und Freunden wieder auf Augenhöhe sein können, löst starke Emotionen aus. Auch mich macht das nach wie vor glücklich», erzählt Asboth.

Die klinische Studie für die invasive Therapiemethode hat vor fünf Jahren begonnen. Dabei wird ein sechs Zentimeter langes Implantat auf dem Rückenmark platziert und mit einem kleinen Gerät – ähnlich einem Herzschrittmacher – im Bauchraum verkabelt. Mit einem externen Apparat können die Patientinnen und Patienten ein Programm auswählen und entscheiden, ob sie beispielsweise stehen, gehen, Velo fahren oder schwimmen möchten. Das geht in der Regel ununterbrochen für zwei bis drei Stunden, dann braucht der Körper eine Pause, bevor die nächste Stimulation beginnen kann. «Je öfter trainiert wird, desto stärker werden die Muskeln. Trotzdem sollte man den Körper nicht überbelasten», sagt Asboth.

Stimulation hilft auch bei der Regulierung des Blutdrucks

Eine weitere Herausforderung: Betroffene können ihren Blutdruck nicht mehr stabilisieren, weil die Rückenmarksverletzung den Informationsweg zwischen Gehirn und Nervensystem unterbricht. Deshalb haben Patientinnen und Patienten ein dreimal höheres Risiko, eine Herzerkrankung zu entwickeln. Die Schwankungen können dazu führen, dass ihnen schwindlig und übel wird. Gemeinsam mit kanadischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hat das Schweizer Team gezeigt, dass die elektrische Stimulation des Rückenmarks den Blutdruck wieder ins Lot bringen kann.

In wenigen Jahren auf dem Markt?

Die getrennten Nervenfasern wieder zu regenerieren, gelingt der neuen Art der Rückenmarkstimulation aktuell noch nicht: «Wir hoffen aber, dass künftige Therapien in Kombination mit der Stimulation das irgendwann schaffen werden.» Bis dahin ist der Weg noch weit. Nach der ersten muss die Therapieform nämlich noch einige weitere Studien mit fortgeschrittenen Technologien durchlaufen, bis sie genehmigt und Querschnittgelähmten zugänglich gemacht wird. «Wir hoffen aber, dass Patientinnen und Patienten in fünf bis zehn Jahren von dieser neuen Technologie profitieren können», stellt Asboth in Aussicht.

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