Dossier: Sexualität

Mara: im falschen Körper geboren

Die beiden Kinder kommen im Winter 2013 in einem Basler Spital zur Welt. Es sind Zwillinge, zwei Buben, die Familie freut sich. Ein Mädchen und ein Junge wären schön gewesen, aber die Mutter macht sich keine weiteren Gedanken. Sie ist bloss glücklich darüber, dass die Kinder gesund sind.

Text: Anna Miller; Fotos: Karin Heer

Eine kleine glückliche Familie mit Haus und Garten, die im Aargau ländlich mit einer alten Katze und den Schwiegereltern in der Nähe wohnt. Es ist alles genau so, wie es bei vielen Familien in der Schweiz auch ist, alles ganz normal, bloss etwas ist anders: Aus dem mittlerweile achtjährigen Jan ist über die Jahre Mara geworden.

Die kleine Mara ist im falschen Körper geboren, würden die einen jetzt sagen. Sie ist transident, sagt man in der Fachsprache. Mara identifiziert sich nicht mit ihrem angeborenen Geschlecht. «Das hat ganz früh angefangen», sagt die Mutter. Mit eineinhalb Jahren schon habe sich der Bub Tüchlein an den Kopf gebunden und gespielt, diese wären sein langes Haar. Mit der besten Freundin spielt er Prinzessin, wünscht sich mit zwei Jahren zu Weihnachten die erste Rapunzel-Puppe, der Bruder wünscht sich einen riesigen Bagger. Geht Jan zu seiner besten Freundin nach Hause, macht er als Erstes den Schrank auf und zieht sich deren Mädchenkleider an. Anfangs denkt die Mutter: Vielleicht hab ich einfach ein homosexuelles Kind. Sie versucht, das Kind zu unterstützen, sagt ihm Dinge wie: «Farben sind für alle da, auch Glitzer.» Auf Jans Wunsch hin kauft die Mutter ihm ein langes Nachthemd, das er zu Hause beim Schlafen trägt.

Als das Kind mit drei Jahren als Prinzessin Elsa verkleidet an die Fasnacht darf, strahlt es über das ganze Gesicht und fährt sich über die lange blonde Zopfperücke. Es ist das erste Mal, dass das Kind in der Öffentlichkeit, ausserhalb des Hauses, ein Kleid trägt. «Ich dachte anfangs, es sei bloss eine Phase», sagt die Mutter heute, «und ehrlicherweise hoffte ein Teil in mir, dass sie aufhört.» Nicht weil sich die Mutter für das Kind geschämt hätte – sondern aus Angst. «Ich wollte mein Kind schützen. Ich dachte mir: Was soll ich tun, wenn es in einem Mädchenkleid in den Kindergarten möchte? Wird es dann gehänselt?» Per Zufall stösst die Mutter in einem Elternforum auf Social Media auf eine ähnliche Geschichte. Und beginnt nachzuforschen. Sie liest das erste Mal von einer möglichen Transidentität. «Etwas, das ich zuvor nicht gekannt hatte.» Sie meldet sich beim Transgender Network Switzerland, vernetzt sich, besucht Vorträge, sucht Rat bei Expertinnen.

Dagmar Pauli, Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich und Leiterin der Sprechstunde für Geschlechtsidentität, sagt, es sei normal, dass Eltern nicht wissen, wie sie mit der Situation umgehen sollen und nach Orientierung suchen. Sie kommen dann zu Frau Pauli in die Sprechstunde und würden am liebsten einen Test machen lassen, irgendetwas, das ihnen Gewissheit darüber gibt, in welche Richtung sich nun alles entwickeln wird. Oft fragen sie auch, ob alles bloss eine Phase sei. Über 100 Personen kommen pro Jahr in ihre Sprechstunde, weil sie ein minderjähriges Kind zu Hause haben, bei dem nicht klar ist, ob es ein anderes Geschlecht haben will oder ob es sich um eine Geschlechtsvarianz handelt, also darum, dass ein Bub beispielsweise Mädchenkleider tragen will, sich aber trotzdem als Bub sieht. Wie viele transidente Kinder und Jugendliche es gibt, weiss niemand genau, es existiert keine Statistik, weder für die Schweiz noch für Europa.

Warum sich ein Mensch nicht mit seinem angeborenen Geschlecht identifiziert, ist noch nicht ganz klar. Neue Studien deuten zwar darauf hin, dass biologisch etwas anders sein könnte, das Gehirn anders funktioniert, doch die Evidenz ist klein. Entscheidend sei der Leidensdruck des Kindes. Und wie stabil der Wunsch über die Zeit ist. «Am Ende aber», sagt Pauli, «gibt es keine absolute Sicherheit.» Man muss mit dem Kind mitgehen, aufmerksam sein, in Kontakt bleiben. Ihm helfen, seine Vorlieben auszuleben. Es gebe Kinder, die lange ihren Weg suchten. Und dann gebe es solche, die schon sehr früh ganz klar wüssten, dass sie in einem für sie nicht passenden Körper geboren worden seien. So ergeht es auch Mara.

Mara (r.) lebt mit ihrer Familie im Aargau. Sie wusste ...
... bereits sehr früh, dass sie in einem für sie nicht passenden Körper geboren wurde.

Wenn die Aufsichtspersonen in der Spielgruppe Sätze rufen wie: «Die Mädchen in diese Ecke, die Buben in diese», springt Mara auf und läuft automatisch zu den Mädchen rüber. Und wenn Mama sagt, du bist aber ein schöner Prinz, korrigiert sie sie und sagt: «Nein, ich bin eine Prinzessin.» Eine Psychologin rät der Mutter, sich mit einer Namensänderung auseinanderzusetzen. Einen Raum zu öffnen, in welchem die Familie und das Kind sich Schritt für Schritt in die neue Welt hineinbewegen könnten. Also fährt die Mutter mit der Familie zwei Wochen zu den Eltern nach Österreich. Und lässt das Kind zwei Wochen als Mädchen leben. «Es fühlte sich für uns alle gut an – und vor allem für sie», sagt die Mutter heute.

Doch noch immer waren da sehr viele Ängste und Fragen. Allen voran: Was ist, wenn ich mein Kind zu früh in etwas hineindränge? Was, wenn ich mich täusche? Und dem Kind damit schade? Expertin Pauli bestätigt: Bei vielen Eltern bleibt die Angst, dass sie zu früh handeln. Oder zu spät. Dagmar Pauli rät hier: einen Schritt nach dem anderen. Es sei ja ein Wandel, ein Prozess, nichts in Stein gemeisselt. Und das solle man dem Kind auch mitgeben. Du darfst sein, wer du bist, und wenn du dich irgendwann wieder umentscheidest, ist das auch okay. Je mehr sich die Mutter jedoch über das Thema informierte und gemeinsam mit dem Kind Schritte ging, desto sicherer wurde auch sie selbst. «Mein Mann sagte irgendwann, als mich wieder grosse Unsicherheit und Angst geplagt hat: ‹Was hast du denn für Ängste? Unser Kind war doch noch nie ein Bub.›» Sie lacht heute, wenn sie davon erzählt. Und fügt an: «Er hatte recht.»

Sie habe ihren Sohn nicht verloren, sie habe aber auch keine Tochter im eigentlichen Sinn gewonnen, alles sei im Grunde so, wie es schon immer gewesen sei. Mittlerweile, sagt die Mutter, könne sie sich Mara gar nicht mehr anders vorstellen. «Für uns ist sie ein Mädchen, das ist ganz normal, wir hinterfragen das in der Familie gar nicht mehr», sagt sie. Der Name im Pass wurde abgeändert, die soziale Transition, also das Kommunizieren darüber, dass Mara nun Mara heisst und ein Mädchen ist, wurde bereits mit fünf Jahren vollzogen. Die Umgebung, die Nachbarn, die Familie, die Schule haben die Entscheidung verstanden und tragend unterstützt. Doch das Thema ist noch immer schambehaftet und man weiss nicht, wie die Gesellschaft auf Menschen wie Mara reagieren wird. Auch deshalb möchte die Familie ihren Namen nicht öffentlich machen. Alle Namen in diesem Artikel sind geändert. «Ich möchte nicht, dass sie später ihren Namen googelt und als Erstes ihr Geschlecht Thema ist», sagt die Mutter.

Natürlich, der Weg ist noch nicht zu Ende. Irgendwann kommt die Pubertät. Kommen neue Fragen. Neue Ängste. Vielleicht dreht sich dann zwischenzeitlich viel um Hormone oder um die Frage einer Geschlechtsangleichung. Die Mutter ist überzeugt, dass ihre Tochter ihren Weg gehen wird. «Vielleicht wird sie gar keine operativen Eingriffe brauchen, vielleicht ist sie dann einfach, wie sie ist, und es ist gut so», und wenn doch, dann sei das auch in Ordnung, alles offen. «Mein Kind ist kein Normkind, daran habe ich mich gewöhnt, und ich durfte lernen, meinem Kind zu glauben, was es sagt. Ihm den Rücken stärken und sagen: Was auch immer du fühlst, du fühlst richtig, und wir sind für dich da.» Jetzt ist sie gerade ein achtjähriges Mädchen, ein normales Mädchen mit langen Haaren, und niemanden interessiert’s, ob sie im Körper eines Jungen zur Welt gekommen ist. Sie ist einfach Mara.

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