Dossier: Sexualität

PCOS: Weitverbreitete Frauenkrankheit, die keiner kennt

Das Polyzystische Ovarsyndrom, kurz PCOS, ist kaum bekannt. Obwohl 20 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter davon betroffen sind. Warum ist das so? Und was kann man tun?

Text: Anna Miller; Foto: iStock

Plötzlich war da nichts mehr, das blutete. Annika Biedermann, 24 Jahre alt, war es gewohnt, dass ihre Menstruation mal später, mal früher kam – diese Unregelmässigkeiten im Zyklus, immer wieder. Doch im Frühling 2022 blieb sie einfach aus. Vorerst einen Monat … dann zwei, dann drei. Die junge Frau, die in Zürich wohnt und als Slam-Poetin auftritt, machte mehrere Schwangerschaftstests. Sprach mit Freundinnen darüber. Und begann zu googeln.

Doch wo sie auch fragte und suchte: Irgendwie schien es normal zu sein, dass der Zyklus einer Frau nun mal nicht regelmässig ist, dass Stress die Ursache sein kann, Schwankungen, das Leben selbst. «Nach drei Monaten entschloss ich mich dann aber doch, zu meiner Frauenärztin zu gehen», sagt sie, die Jahreskontrolle war sowieso fällig. Und die machte sofort einen Ultraschall und einen Bluttest.

Symptome eines polyzistischen Ovarialsyndroms

Das Ergebnis hatte vier Buchstaben: PCOS. Ausgeschrieben: Polyzystisches Ovarsyndrom. Eine Krankheit, bei welcher der weibliche Körper zu viele männliche Hormone, also Androgene, produziert und deshalb unerwünschte Begleiterscheinungen auftreten, die bei Frauen unüblich sind: Zyklusschwankungen bis hin zur ausbleibenden Monatsblutung und zum fehlendem Eisprung, starke Körperbehaarung an für weibliche Körper ungewöhnlichen Stellen wie Gesicht, Bauch, Rücken. Haarausfall auf dem Kopf. Und eben diese vielen Eibläschen im Eierstock, die nicht reifen, die der Krankheit ihren Namen geben – die polyzystischen Ovarien. Dabei kommt es zu Zyklusstörungen, die oft mit einem unerfüllten Kinderwunsch einhergehen.

PCOS betrifft viele Frauen im gebärfähigen Alter

Nach neuster Definition sind fast 20 Prozent betroffen. PCOS stellt sogar die häufigste endokrinologische Erkrankung der gebärfähigen Frau dar. Trotz dieser hohen Zahl haben viele Menschen noch nie von dieser Krankheit gehört – weder Frauen noch Ärztinnen oder Ärzte. «Die Krankheit fristet ein Schattendasein», sagt Ärztin und Expertin Susanne Hahn, die sich seit 2001 intensiv mit dem Polyzystischen Ovarsyndrom auseinandersetzt. Obwohl man die ersten Erwähnungen des PCO-Syndroms bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen könne, werde es auch im medizinischen Kontext stiefmütterlich behandelt. «Die Endometriose beispielsweise hat dagegen in den letzten Jahren eine erstaunliche Karriere hingelegt», sagt Hahn, die in einer Praxis für Endokrinologie in Düsseldorf arbeitet.

PCO-Syndrom und Endometriose unterscheiden sich in puncto Schmerzen

Endometriose wird im öffentlichen Diskurs, in Medienberichten und an Küchentischen breit diskutiert und ist mittlerweile bei vielen bekannt, die selbst nicht betroffen sind. Hahn erklärt sich den Unterschied damit, dass das PCO-Syndrom keine physischen Schmerzen verursacht, während die Endometriose starke Krämpfe auslöst. «Die Endometriose und das PCO-Syndrom haben im Grunde nichts miteinander zu tun, das sind völlig verschiedene Krankheitsbilder», sagt Hahn. Doch das eine ist in aller Munde, während das andere kaum jemand kennt. «Weil man beim PCO-Syndrom rasch dazu verleitet wird, zu denken: Ach, schmerzfrei, dann kann das ja alles auch nicht so dramatisch sein.»

PCOS beeinflusst die Psyche von Betroffenen

Doch ganz so einfach ist es nicht: Denn das PCO-Syndrom führt zu teils grossem Leiden bei den Betroffenen. Vor allem tut es der Seele weh. «Stellen Sie sich vor, wie Sie sich fühlen, wenn Sie sich als Frau zweimal am Tag das Gesicht rasieren müssen, um überhaupt in eine Bar gehen zu können», sagt Hahn. Die starke Körperbehaarung und das Übergewicht, von dem viele Frauen betroffen sind, wiegen mit am schwersten. «74 Prozent der betroffenen Frauen sind übergewichtig, zwei Drittel von ihnen zeigen Anzeichen einer Angststörung und Depression», sagt Hahn. Die psychischen Auswirkungen sind also teils heftig. Und: «Viele Betroffene denken, mit ihnen sei etwas nicht in Ordnung, weil sie übergewichtig sind und beispielsweise an Haarausfall leiden, obwohl sie auf die Ernährung achten, Sport treiben und sich pflegen.»

Antibabypille erschwert die Diagnose von PCOS

In einer Gesellschaft, in der nach wie vor klare Körperideale herrschen und die schlanke, unbehaarte Frau den höchsten Status hat, eine belastende Ausgangslage. Genau auch deshalb, weil dieses Körperbild mit so viel Scham verbunden sei, verzögere sich eine korrekte Diagnose teilweise um Jahrzehnte, meint Hahn. Weil die Frauen sich nicht abzuklären trauen, was mit ihnen nicht stimmen könnte, und sich selbst die Schuld geben. Aber auch weil viele Frauenärzt:innen die Diagnose nicht auf dem Schirm haben. «Bei Zyklusstörungen im Jugendalter wird oft und gerne einfach mal die Pille verschrieben», sagt Hahn. «Die Frauen nehmen dann 20 Jahre die Pille, setzen sie mit Mitte 30 ab, um schwanger zu werden, und stellen mit Erstaunen fest, dass sie PCOS-Symptome haben, die im Grunde schon immer da waren, die sich aber aufgrund der Pille nicht zeigten.»

Auch Annikas Zyklus war schon immer unregelmässig gewesen, dauerte oft über 30 Tage. Trotzdem ist sie ein untypischer Fall. Ihr PCO-Syndrom ist nur leicht ausgeprägt, nach einer kurzen Hormonbehandlung von zehn Tagen war ihr Zyklus wieder eingependelt, seither fühlt sich die 24-Jährige wieder im Lot. Keine Behaarung, kein Haarausfall, keine Gewichtsprobleme.

PCOS ist eine angeborene Krankheit. Die Ursachen? Unklar!

Dass das nun für immer so bleiben wird, ist aber nicht gesagt: Denn PCOS ist eine angeborene Krankheit, sie wird vererbt. Wie genau und warum, darüber wissen die Mediziner:innen bisher wenig. «Fest steht jedoch: Hat man PCOS, hat man es immer – ein Leben lang», sagt Hahn. PCOS entsteht also nicht, wie einige behaupten, durch Stress, schlechte Ernährung oder falsche Verhütung. PCOS ist genetisch bedingt. Man weiss also, wie es nicht entsteht. Doch wie dann? «Das wissen wir tatsächlich bis heute nicht», sagt Hahn. Auch in der Frage, warum Frauen so unterschiedlich davon betroffen sind, tappt man noch weitestgehend im Dunkeln. «Man vermutet multigenetische PCOS-Ursachen», sagt Expertin Hahn. Verschiedene Genvarianten seien beteiligt, deshalb hätten auch nicht alle Frauen die gleiche Ausprägung.

Die Antibabypille reguliert vieles – aber nicht alle wollen sie

Die gute Nachricht: Ab ungefähr dem Alter von 35 nehmen die Beschwerden automatisch ab, weil der Spiegel der männlichen Hormone im Körper sinkt. «Es gibt sogar gewisse Hinweise, dass das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen nach der Menopause bei PCOS-Frauen nicht mehr erhöht ist im Vergleich zu Frauen ohne PCOS.» Warum das so ist, weiss man noch nicht. Es gibt noch sehr viel zu forschen. Zumindest ein Trost: Mithilfe der Antibabypille können die Symptome zum Verschwinden gebracht werden – auch Symptome wie Akne beispielsweise, die bei manchen Frauen auftauchen. Der Haupteffekt wird über das Östrogen erreicht – es erhöht den Spiegel des Bindungshormons für Testosteron, das in der Folge weniger Einfluss auf den Hormonhaushalt nehmen kann. Ihm sind sozusagen die Flügel gestutzt.

Behandlung von PCOS: Es gibt mehrere Möglichkeiten

Die Antibabypille ist in den letzten Jahren in die Kritik geraten und immer mehr Frauen wollen keinerlei Hormone mehr nehmen. Derzeit gibt es keine Möglichkeit, PCOS zu heilen. Ist eine PCOS-Behandlung ohne Pille möglich? Ja. Denn neben der Pille stehen weitere Therapiemöglichkeiten zur Verfügung, um die Beschwerden zu lindern oder gar zu normalisieren: Das bekannte Diabetesmedikament Metformin kann man beispielsweise für die PCOS-Behandlung einsetzen oder das Nahrungsergänzungsmittel Inositol, das rezeptfrei erhältlich ist. Rund 80 Prozent der Betroffenen bräuchten Unterstützung in irgendeiner der genannten Formen, um den Hormonhaushalt auszugleichen, sagt Hahn. Manchmal auch von aussen, mithilfe von Cremes, die den Haarwuchs stoppen, oder Tinkturen, die ihn ankurbeln.

Annika selbst geht es mit der Diagnose gut, sie hat kaum Beschwerden. Doch darüber sprechen will sie trotzdem, nicht zuletzt um anderen Mut und die Krankheit bekannter zu machen. «Nachdem ich das erste Mal öffentlich über meine Erfahrungen und die Diagnose gesprochen habe, haben sich unglaublich viele Menschen bei mir gemeldet», erinnert sie sich. Mit viel Lob, vielen Fragen, eigenen Krankheitsschilderungen. Aber auch mit der Frage nach einer guten Ärztin. Und dem Vorwurf: Die Krankheit sei bei einigen nicht erkannt worden.

Kinderwunsch und das PCO-Syndrom: Schwanger werden dauert  länger

Deshalb, sagt auch Hahn, sei neben dem Ultraschall der Bluttest so wichtig, er zeige schwarz auf weiss, ob ein PCO-Syndrom vorliege oder nicht. Jede, die einen dauerhaft längeren Zyklus habe, also über 35 Tage lang, oder einen kurzen, also unter 21 Tage lang, sollte sich mittelfristig abklären lassen. Mit Ultraschall und Bluttest. Vor allem auch wenn man Kinder wolle. «Frauen, die PCOS haben, sind nicht per se weniger fruchtbar als Nichtbetroffene», sagt Hahn. Doch es dauert, weil bei vielen der Eisprung unterdrückt wird, nun mal länger, ist teilweise komplizierter. Wisse man jedoch Bescheid, sagt die Expertin, könne man dem sehr einfach entgegenwirken. Sowohl mit Medikamenten, die wieder einen normalen Eisprung auslösen, als auch mit solchen, die künstlich einen Eisprung auslösen.

Ob nur schwach ausgeprägt oder stark, ob auf der Seite der Betroffenen oder auf der Seite der medizinischen Expertin: Sowohl Annika Biedermann als auch Susanne Hahn wünschen sich, dass die Krankheit mehr Sichtbarkeit erhält. Und damit auch mehr Raum für Forschung, Behandlung – und eines Tages vielleicht sogar Heilung.

Hausmittel: Was hilft bei Beschwerden aufgrund des Polyzystischen Ovarsyndroms?

Grundsätzlich gilt auch beim PCO-Syndrom, was in vielen Bereichen der Gesundheit und des Hormonhaushalts gilt: Was für den Körper gut ist, hilft auch, die Beschwerden zu lindern. So helfen Bewegung, Wärme, eine gemüsereiche Küche, wenig Zucker, hochwertige Fette und wenig Stress dabei, einen gesünderen Lebensstil zu führen.

Auch die Aufnahme von Präbiotika wie Inulin, das sich in Gemüse wie Chicorée oder Pastinaken findet, helfen dem Darm, sich zu regulieren, aber auch Biokefir oder mit Bifidusbakterien angereicherter Joghurt unterstützen das Mikrobiom wirksam. Neben Nahrungsergänzungsmitteln aus der Apotheke sei aber eine professionelle Abklärung unerlässlich, meint Hahn.

Über die Expertin

Susanne Hahn ist Ärztin in einer Praxis für Endokrinologie in Düsseldorf und anerkannte Expertin auf dem Gebiet PCOS. Hahn setzt sich seit über 20 Jahren wissenschaftlich mit dem Phänomen des Polyzystischen Ovarsyndroms auseinander.

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