«Ich bin nicht behindert, ich habe eine spezielle Begabung»
Sie ist Autistin, er nicht. Wie funktioniert eine Beziehung, wenn beide die Welt ganz unterschiedlich wahrnehmen? Ein Besuch bei Karin und Frank Lehmann im Berner Seeland.
48 Jahre. Fast fünf Jahrzehnte begleitet sie das diffuse Gefühl, dass etwas mit ihr nicht stimmt. Ein halbes Leben lang eckt sie an, ohne zu wissen, warum. Heute ist Karin Lehmann 52 und seit der Diagnose von vor vier Jahren hat ihre Ahnung endlich einen Namen: Asperger.
Emotionen des Gegenübers erkennen fällt schwer
Wir treffen uns, da riecht es schon nach Herbst. Im Garten werden die letzten Äpfel geerntet. Ihr Mann Frank wird Apfelringe aus ihnen machen, die sie am liebsten mit Vanillesauce isst. Während unseres Gesprächs fällt auf ... dass gar nichts Besonderes auffällt. Karin Lehmann blickt ihrem Gegenüber in die Augen, lacht an den richtigen Stellen. Nur: Was derweil im Gesicht des Gegenübers passiert, erkennt sie nicht. Karin Lehmann kann Mimik nicht deuten, wie sie später erzählt. Erkennt nicht, wenn jemand traurig schaut, enttäuscht die Mundwinkel sinken lässt, zornig die Augenbrauen zusammenzieht. Eine der Facetten des Asperger-Syndroms.
Eine weitere ist, dass sie ungefiltert sagt, was sie denkt. Wie neulich zu einem Arbeitskollegen: «Jetzt wird nöd gschnurret, jetzt wird gschafft!» Sie drehte sich um, ging zurück an ihren Arbeitsplatz. Für sie war die Situation damit geklärt. Als der Kollege sie daraufhin ansprach, sagte sie ihm: «Ich bin einfach so. Ich bin Autistin.» Lehmann geht offensiv mit ihrem Anderssein um. Und gibt das als Tipp für Menschen im Autismusspektrum weiter: «Versucht, zu erklären, was mit euch los ist. Und ihr anderen: Fragt nach, warum jemand so reagiert, wie er reagiert. Stempelt euer Gegenüber nicht sofort ab.»
Masking: Die Kunst des Anpassens
Sie weiss, wie es ist, Aussenseiterin zu sein. «Ich hatte niemanden. Zu mir kamen die Schulkollegen nur, wenn ich eine Rechenaufgabe für sie lösen sollte.» Sie habe sich so durchgewurstelt, sich viel bei anderen Kindern abgeschaut. Vor allem weibliche Betroffene würden über die Zeit wahre Meisterinnen im Kopieren und Anpassen – mit ein Grund, warum Autismus bei Mädchen später als bei Buben entdeckt wird.» Als Kind hätte sie sich Eltern gewünscht, die sie hätten abklären lassen. «Meine Mutter sagte immer nur: Du bist eben einfach so. Und fertig.» Die Angst vieler Eltern, ihren Kindern mit der Diagnose Autismus zu schaden, lässt Lehmann nicht gelten. «Das ist die Angst der Eltern, nicht die der Kinder. Wenn Kinder eine Diagnose haben, bekommen sie Hilfe.»
«Ich wäre gern ein Grosi, das sein Enkelkind auf den Schoss nimmt und ihm vorliest.»
Erst ein Zusammenbruch führte zur Diagnose Autismus
Sie selbst holt sich diese erst nach einem Zusammenbruch. Fast 20 Jahre arbeitet sie bei der Post. Gerade bei der Kommunikation mit Kunden sei das schwierig gewesen. Dabei handelte Lehmann stets nach bestem Wissen und Gewissen, jedoch ohne das nötige Fingerspitzengefühl. Es hagelte Reklamationen, Lehmann musste wiederholt zum Chef, bis sie zusammenbrach und schliesslich die Kündigung erhielt. Da endlich will sie Klarheit, geht zum Psychiater, lässt sich an den Universitären Psychiatrischen Diensten in Bern auf Autismus testen. «Als ich die Diagnose bekam, machte es bei mir klick. Es gab endlich einen Grund, warum ich reagiere, wie ich reagiere. Warum mein Mund schneller ist als mein Hirn.»
Lernen, was einem gut tut
Heute lacht sie darüber. «Bei der Post habe ich zu den Schaltern rechts und links geschaut, gesehen, wie die es machen, und dann den Mittelweg für mich organisiert. Ich habe ein fotografisches Gedächtnis, das mich meine Gedanken wie einen Film durchspulen lässt, der nachts oft einfach weiterläuft.» Durch regelmässige Ruhezeiten erholt sie sich von all dem, was da auf sie einprasselt. Den ÖV benutzen kann sie nicht, zu viele Leute, Geräusche, Berührungen. Sie fährt mit dem Auto zu ihrer neuen Arbeitsstelle. «Wenn ich angespannt bin, drehe ich die Musik auf. So kann ich runterfahren, ich sehe dann die Fahrbahn besser.»
Kommt sie in einen Raum, erfasst sie alles mit einem Blick. Es stört sie, wenn etwas nicht am richtigen Ort ist. Wegen ihres versteiften Daumens arbeitet Lehmann heute an einer geschützten Stelle im zweiten Arbeitsmarkt. «Der Druck ist weg. 19 Jahre habe ich im Schlaf den ganzen Tagesablauf durchgespielt.» Nun schickt sie in einer 50-Prozent-Stelle Zahnbürsten, Babyrasseln, Nuggi zum Verpacken übers Laufband. Und rechnet schneller als die Rechenmaschine im Geschäft.
Menschen mit Asperger haben spezielle Begabungen
Es verletzt sie, wenn vom Asperger-Syndrom als Störung gesprochen wird. «Ich bin nicht behindert, ich habe eine spezielle Begabung, die auch ein Geschenk sein kann: Ich habe nur sieben Jahre im Spital gearbeitet, aber wenn es darauf ankommt, schaltet mein Gehirn auf Medizin um. Ich weiss sofort, wie man handeln muss.» Als ihr Sohn klein war, habe der einen Velounfall gehabt und genäht werden müssen. «Bei meinem Mann schrie mein Sohn wie am Spiess, bei mir wurde er sofort ruhig. Weil ich es selbst war. Für mich war er in diesem Moment nicht mein Sohn, sondern ein Patient. Ich war in der Lage, so effektiv wie eine Maschine zu handeln.» So könne man doch immer auch voneinander lernen – Hilfe anzunehmen beispielsweise habe ihr ihr Mann beigebracht.
34 Jahre sind die beiden ein Paar, seit er sie beim Karussell auf der Chilbi angesprochen hat. Später am Abend trafen sie sich wieder, redeten, der Festplatz hatte sich längst geleert. Schnell wurden sie ein Paar. Er sagt: «Am Anfang ist mir nicht aufgefallen, dass sie anders ist. Natürlich hatten wir im Verlauf unserer Beziehung unsere Hochs und Tiefs. Irgendwann sagte sie: ‹Etwas ist nicht gut mit mir.› An Autismus habe ich aber nie gedacht.» Ihm ist es wichtig, zu betonen, dass das ja keine Krankheit sei. «Meine Frau hat Fähigkeiten, die andere nicht haben.» Von Anfang an habe sie ihm klar gesagt, was sie mag und was nicht. «Ich kann sie nicht einfach in den Arm nehmen. Sie muss auf mich zukommen. Sonst fühlt sie sich schnell eingeengt und zieht sich zurück.»
«Die Liebe ist ja da. Man kann jemanden doch nicht einfach in den Wind schiessen, weil er anders ist.»
Berührungen sind schwer auszuhalten
Das Paar hat zwei Kinder. Karin Lehmann sagt: «Spätestens da hätte ich wissen müssen, was mit mir los ist. Die Stillzeit habe ich genossen, aber später konnte ich meine Kinder nicht mehr auf den Schoss nehmen. Ich konnte das Geklecker nicht ertragen. Oder dreckige Finger. Ich habe sie nie umarmt, ihnen nie einen Gutenachtkuss gegeben. Zu Bett gebracht hat sie immer mein Mann.» Trotzdem sei sie ihren Kindern nah, auf ihre Weise. Mit der Diagnose Asperger hätten auch sie sich erklären können, warum ihr Mami so ist, wie sie ist. «Auch ihre Partner wissen Bescheid. Bei mir gab es schon vor Corona kein Küsschen rechts, Küsschen links. Das ist nicht mein System.»
Gleichzeitig tut es Lehmann weh, auch zu ihrem Enkelkind keine körperliche Nähe aufbauen zu können. «Ich wäre gern ein Grosi, das sein Enkelkind auf den Schoss nimmt und ihm vorliest. Aber ich halte die Nähe nicht aus.» Ihr Mann hat das von Anfang an akzeptiert: «Die Liebe ist ja da. Man kann jemanden doch nicht einfach in den Wind schiessen, weil er anders ist. Wenn sie Ruhe braucht, zieht sie sich zurück. Ich schätze es, dass wir uns unsere Freiräume lassen.» Und sie ergänzt: «Für uns stimmt es so.»
Wie fühlt ein Autist?
Der Psychologe Matthias Huber – selbst Autist – gibt im Podcast des Sanitas Health Forecast Einblicke darüber, wie Menschen im Autismusspektrum fühlen und die Welt wahrnehmen.
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