Dossier: Digitales Leben

Digitale Medien – die gefährliche Versuchung

Für Kinder und Jugendliche birgt das vielfältige Unterhaltungs- und Informationsangebot digitaler Medien auch Gefahren. Wenn die virtuelle Welt zum Ersatz wird für reale Erfahrungen und zwischenmenschliche Nähe, kann sogar die psychische und physische Gesundheit auf dem Spiel stehen.

Text: Sanitas; Foto: Unsplash

Auf dem Velo den Berg hinuntersausen, kopfvoran ins Wasser springen, coole Moves auf dem Board aufschnappen oder mit Kolleginnen und Kollegen einfach gemütlich abhängen – das und noch viel mehr geht heute ganz leicht und ohne dass man sich auch nur einen Fingerbreit bewegen muss: zum Beispiel durch das Kameraauge von YouTube-Filmen, beim Gamen und beim Chatten. Gerade für Junge hält die digitale Welt einen riesigen Fächer an Angeboten bereit, die dazu verführen, virtuelle Erlebnisse jenen in der realen Welt vorzuziehen.

Gesundheitliche Gefahren durch Übernutzung digitaler Medien

Der Medienkonsum durch Kinder und Jugendliche nimmt rasant zu, wobei das Smartphone den Spitzenplatz belegt, gefolgt vom Fernseher. In der Schweiz besitzt aktuell bereits über die Hälfte der Kinder zwischen 6 und 13 Jahren ein Handy, bei den Jugendlichen sind es nahezu 100 Prozent. Davon verfügen 97 Prozent über ein Smartphone mit Internetzugang. Diese Ergebnisse fördert die sogenannte James-Studie (Jugend-Aktivitäten-Medien-Erhebung Schweiz) von 2016 zutage. Heute sind die Jugendlichen jeden Tag eine halbe Stunde länger online, als es bei der ersten James-Erhebung im Jahr 2010 der Fall war. An Wochentagen surfen sie aktuell nach eigenen Angaben täglich im Schnitt 2 Stunden und 30 Minuten, am Wochenende sind es sogar 3 Stunden und 40 Minuten. Ein Fünftel der Heranwachsenden berichtet von einer noch häufigeren Handynutzung. Und 8 Prozent von ihnen sind dadurch so stark in der digitalen Welt involviert, dass sie als suchtgefährdet bezeichnet werden müssen. Je häufiger die Nutzung, desto mehr ist die psychische und physische Gesundheit junger Menschen in Gefahr.

«Je häufiger die Nutzung, desto mehr ist die psychische und physische Gesundheit junger Menschen in Gefahr.»

Virtuell gestillte Bedürfnisse: Wie Medien Leben beeinflussen

Die Zeit, die Junge mit digitalen Medien verbringen, geht auf die Rechnung von Aktivitäten und sozialen Kontakten in der realen Welt. Nicht selten auch auf die Rechnung von Schlaf und Schulaufgaben. Damit nimmt die digitale Welt eine sehr dominante Position ein: Sie dient anstelle von Kinderzimmer, Fussballplatz, Wald oder anderen Treffpunkten als digitaler Raum für den Abbau von Affekten wie Langeweile, Frust, Wut oder sexueller Erregung. «Das reale Leben scheint uninteressant, das Bedürfnis nach Unterhaltung, Zugehörigkeit, Aufgaben und Herausforderungen wird in der virtuellen Welt gestillt», bringt es der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Christoph Möller auf den Punkt. «Das Ungute daran ist», so Christoph Möller weiter, «dass sie auf diese Weise nicht lernen, ihre Affekte im natürlichen sozialen Umfeld zu regulieren, sondern sie über ein Gerät abbauen. Wird die Affektregulierung im realen Leben erlernt und Interesse an der realen Welt geweckt, ist das Risiko, von solchen Geräten abhängig zu werden, deutlich geringer.»

Weniger Empathie und Fantasie, mehr Körpergewicht

Christoph Möller weist zudem auf die Gefahr hin, dass junge Menschen aufgrund einer intensiven Nutzung moderner Medien die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, verlieren oder schon gar nicht erst entwickeln. Sie haben Mühe, emotionale Befindlichkeiten des Gegenübers zu erkennen und mit ihm in eine konstruktive Beziehung zu treten. «Ebenso entsteht ein Mangel an Fantasie und Vorstellungsvermögen, da diese durch das ständige Reagieren auf vorgegebene Bilder – anders als etwa beim Lesen – schlicht nicht mehr erforderlich sind.» Die häufige Beschäftigung mit digitalen Medien kann aber auch körperliche Folgen haben. So ist der Psychiater mit Fällen von Jugendlichen vertraut, die zugunsten ihrer ungestörten Präsenz im Internet essenzielle Bedürfnisse wie Hunger, Durst oder die Hygiene vernachlässigen. Oder sich schlecht ernähren und Übergewicht entwickeln, weil die Verpflegung möglichst schnell und bequem vonstattengehen muss.

«Ebenso entsteht ein Mangel an Fantasie und Vorstellungsvermögen, da diese durch das ständige Reagieren auf vorgegebene Bilder – anders als etwa beim Lesen – schlicht nicht mehr erforderlich sind.»
Prof. Dr. Christoph Möller

Digitale Abhängigkeit: Onlinesucht mit Folgen

Je stärker ein junger Mensch die digitalen Medien in sein Leben integriert, desto grösser wird für ihn die Schwierigkeit, offline zu gehen. Die Angst, etwas zu verpassen, oder das Gefühl, sich im Netz besser zu unterhalten oder sich besser ausdrücken zu können als ausserhalb, könne sich zu einer Onlinesucht auswachsen, so Christoph Möller. Und wer süchtig ist, erleidet früher oder später Entzugserscheinungen. «Bei der Internet- und Gamesucht sind die Entzugssymptome ähnlich wie bei der Drogen- oder Alkoholsucht: Sie reichen von Herzrasen und Kaltschweissigkeit bis hin zu Schlafstörungen.»

«Medienkompetenz beginnt mit Medienabstinenz»

Der Psychiater rät, Kindern erst dann den Umgang mit digitalen Medien zu erlauben, wenn sie folgende Fähigkeiten erworben haben: Selbstkontrolle, Frustrationstoleranz, Empathie, Kommunikation mit anderen Menschen, Interesse am Lernen, aber auch Begeisterungsfähigkeit, Spielfreude. Die einen können das früher, andere brauchen länger dafür. Eltern kennen ihre Kinder und wissen in der Regel, ob sie sich schon gut mitteilen und gut zuhören können – also über Kommunikationsfähigkeit verfügen. Sie spüren, ob ihre Kinder mit Frustrationen umgehen und sich selbst kontrollieren können. Sie merken, ob sie schon Einfühlungsvermögen zeigen oder noch stark bei sich selbst sind und ob sie sich für Erlebnisse und das Lernen in der realen Welt begeistern können. «Medienkompetenz beginnt mit Medienabstinenz», betont Christoph Möller. «Denn wie ich Sinn im Leben finde und wie ich Verhalten und Informationen bewerte, lerne ich in der realen Welt – nicht für mich allein am Bildschirm.» Kinder können also lernen, digitale Medien angemessen und sinnvoll zu nutzen: nicht zu häufig, nicht zu lange, nicht als Ersatz für die reale Welt. Dabei benötigen sie jedoch in jedem Alter Hilfe.

Tipps für mehr Medienkompetenz

Sucht Schweiz hat die wichtigsten Orientierungshilfen für Eltern und Pädagogen zusammengetragen:

  • Mit dem Kind oder dem Jugendlichen über die Erfahrungen mit digitalen Medien reden, sich Apps, Computerspiele, Onlineaktivitäten und Lieblingswebsites zeigen lassen und verstehen, weshalb die Kinder und Jugendlichen sie nutzen.
  • Altersgerechte Regeln zur Nutzungszeit aufstellen. (Tipps dazu finden sich im Elternbrief und im Leitfaden von Sucht Schweiz oder auf dem Elternportal von Jugend und Medien.)
  • Vorbild sein – das heisst: Pädagogen und Eltern sollen die eigenen Mediengewohnheiten kritisch hinterfragen und wenn nötig ändern. Fernseher, Computer und Spielkonsolen nicht im Kinderzimmer, sondern in einem gemeinschaftlich genutzten Raum platzieren. So auch das Smartphone ab einer gewissen Zeit am Abend.
  • Das Verbieten und Zulassen von Bildschirmzeiten nicht als Belohnung oder Bestrafung einsetzen, um deren Bedeutung nicht zusätzlich zu erhöhen.
  • Für genügend Erlebnisse in der realen Welt sorgen – nicht nur Kinder, auch Jugendliche gehen gern mal Schlittschuh laufen, in die Badi oder ins Kino.

Prof. Dr. Christoph Möller

Chefarzt der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik im Zentrum Auf der Bult in Hannover. Er hat folgende Bücher zum Thema geschrieben:

«Was Eltern tun können» (2. Auflage, 2015)

«Internet- und Computersucht. Ein Praxishandbuch für Therapeuten, Pädagogen und Eltern» (2011)

«Jugend Sucht. Ehemals Drogenabhängige berichten» (4. Auflage, 2015)

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