Keime im Alltag: Keine Panik!

Wann sind Keime hilfreich, wann gefährlich? Und wie oft muss ich jetzt meine Hände waschen, damit alles gut wird? Ein Interview mit Markus Egert, Professor für Mikrobiologie und Hygiene an der Hochschule Furtwangen.

Interview: Anna Miller; Foto: iStock

Sanitas: Herr Egert, sind Keime etwas Böses?

Markus Egert: Nein, oft im Gegenteil. Wir brauchen Bakterien, Pilze und Viren, damit es uns gut geht – in uns, auf uns und um uns herum. Über 99 Prozent aller Keime sind für den Menschen ungefährlich, im Alltag sind die meisten von ihnen super. Zu Hause zumindest. Und trotzdem laufen viele mit Desinfektionsmitteln durch die Gegend und denken: Je weniger Keime, desto besser.

Im Operationssaal ist das natürlich eine andere Geschichte. Denn einige Mikroorganismen sind für uns auch gefährlich. Am prominentesten ist derzeit wohl Covid-19. Die grosse Kunst ist es deshalb, Kontakt mit vielen Mikroben zu erlauben, sich aber vor Infektionskrankheiten zu schützen. Ich muss eine Balance finden zwischen meinem eigenen Schutz sowie dem meiner Kinder und natürlicher Vielfalt.

Das ist gar nicht so einfach.

Richtig. Aber da haben wir zum Glück historisch gesehen schon viel erreicht. Gegen die tödlichsten Erreger sind wir geimpft, gegen Hepatitis beispielsweise oder auch Covid. Es ist also sehr wichtig, sich und seine Kinder zu impfen. Dann ist als zweiter Schritt die Hygiene zentral, vor allem das Händewaschen. Alles alte Hüte, aber sie haben sich bewährt. Und der dritte Punkt: Lebensmittelhygiene. Wenn Sie wissen, wie man Lebensmittel richtig kühlt, Fleisch gut durchbraten und den Salat vor dem Verzehr waschen, machen Sie schon das Meiste richtig.

Wie oft muss ich mir die Hände waschen, wie oft Oberflächen reinigen?

Sie dürfen sich auch mal entspannen und Keime zulassen. Und Sie sollten gesunden Menschenverstand walten lassen. Die meisten Menschen spüren intuitiv, wann was angezeigt ist: Wenn ich beispielsweise den ganzen Morgen im Bett gelegen bin, muss ich die Hände nicht waschen – ich war ja mit nichts und niemandem in Kontakt. Nach einer zehnstündigen Fahrt mit der Bahn und dreimal Umsteigen schon.

Esse ich frisches Gemüse vom Bauernhof, darf da ruhig mal was dranbleiben – aber ich wasche es trotzdem. Und wenn ein Stück Apfel auf den Boden fällt, darf mein Kind den Schnitz danach trotzdem essen. Den gröbsten Dreck wische ich aber weg.

Zu viel Vorsicht ist also eher kontraproduktiv?

Absolut. Verfallen Sie nicht in Panik. Studien zeigen: Je öfter vor allem kleine Kinder zwischen null und drei Jahren mit vielfältigsten Mikroben in Kontakt kommen, desto gesünder sind sie danach – ein Leben lang. Die grossen Krankheitserreger sind in den Industrienationen zum Glück zurückgedrängt, Allergien und Asthma aber nehmen zu. Man nimmt an, dass das auch mit dem fehlenden Kontakt mit Mikroben zu tun hat. Auf gut Deutsch: Die Leute sind zu vorsichtig und so wird das Immunsystem nicht mehr trainiert.

Es ist deshalb beispielsweise gut und wichtig, dass unser Trinkwasser nicht steril ist. Es sind keine Krankheitserreger darin enthalten, nur normale Bakterien. Zu versuchen, Trinkwasser steril zu machen, wäre unsinnig, weil Mikroben für uns von Vorteil sind. Und es ist zwar okay, die Küche nach Gebrauch zu reinigen. Aber es ist unsinnig, sie nach dem Kochen zu desinfizieren. 

Respekt ist also gut, Angst schlecht. 

Genau. Man muss Risiken abwägen können.

Kann ich denn aktiv mein Immunsystem mithilfe von Mikroorganismen  stärken?

Sie können so oft wie möglich raus aus der Stadt und in die unberührte Natur gehen.  Streicheln Sie Hunde, Katzen, Schafe, Pferde – das wirkt sich positiv aufs Immunsystem aus. In der S-Bahn habe ich zwar auch eine grosse Vielfalt an Keimen, aber ich brauche eine Mischung aus Keimen aus einer natürlichen Umgebung. In Wald, Wiese und Boden finden sich andere Organismen als in der Stadt. Studien zeigen, dass Menschen in ländlichen Umgebungen viel seltener an Asthma und ähnlichen Krankheiten leiden.

Dann ist ja alles gut. 

Nicht ganz. Denn die schlechte Nachricht ist: Mit 50 nützt Ihnen das kaum mehr was. Meinem Immunsystem ist es nach Jahrzehnten herzlich egal, ob ich drei Wochen campen gehe. Denn die Grundlage für ein gutes Immunsystem wird in der Kindheit gelegt, vermutlich sogar schon im Mutterleib. Deshalb ist es so wichtig, schon die ganz Kleinen mit möglichst vielen Mikroorganismen in Kontakt kommen zu lassen. Sie sollen sich in der Natur aufhalten, sich gesund ernähren, auch mal im Dreck spielen. Und lieber einen Apfelschnitz essen als Apfelmus aus dem Trinkpäckchen nehmen. 

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