Dossier: Stress und Entspannung

Was wir von Kindern lernen können

Kinder sind gute Lehrmeister in Sachen Regeneration. Wenn man sie lässt, nehmen sie sich ganz intuitiv, was sie zur Erholung brauchen – auch, wenn das mit der durchgetakteten Erwachsenenwelt oft weniger gut harmoniert. Eine Feldstudie während des Corona-Lockdowns.

Text: Helwi Braunmiller; Fotos: Sebastian Doerk

Es ist April 2020 in einem Frühling, der anders ist, als diejenigen davor. Ich lerne winzige Viren mit dem hübschen Namen Corona zu fürchten und dass das, was die Schweiz deswegen nun seit vier Wochen praktiziert, «Lockdown» heisst. Ich lerne, was «Social Distancing» ist, und welche Unmengen an Nahrungsmitteln herangeschafft werden müssen, wenn vier Menschen ausschliesslich daheim essen. Ich lerne, dass Haken wundersamerweise für Kinder unsichtbar sind, weswegen Jacken ausnahmslos immer direkt nach der Eingangstür auf dem Boden liegen. Ich lerne auch, wie es ist, wenn Vater, Mutter und die zehnjährigen Zwillingskinder 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche zusammenleben, arbeiten, die Freizeit verbringen. Und vor allem zwingen mich die plötzliche Nähe und unser neuer, ungewohnter gemeinsamer Alltag wieder, genauer hinzuschauen.

Denn meine Kinder – das fällt mir erst jetzt so richtig auf, wo der äussere Routinerahmen plötzlich wegbricht – ticken in vielem ganz anders als ich. Das bringt mich zuerst auf die Palme. Und dann auf den Teppich. Mit etwas Distanz betrachtet ist ihr Takt meinem in vielem überlegen. Oft kippt die Stimmung nur, weil die beiden so sind, wie ich gerade gerne wäre. Erholter. Gelassener. Ausgeglichener. Weniger verbissen und getrieben. Auch intuitiver, vielleicht sogar anarchischer. Wenn man sie lässt, folgen sie ihrer inneren Stimme – noch. Ich frage mich: Könnte ich ein wenig ihrer Entspanntheit in meine Erwachsenenwelt transportieren, wenn ich mir ihre Methoden abschaue – oder folgen sie einfach nur unsystematisch ihren Launen? Ich lege mich auf die Lauer und suche wissenschaftliche Belege.

Bewegen - fürs Gehirn

Lange warten muss ich nicht. Denn auch in Coronazeiten gibt es die Schulpflicht, inklusive Listen mit Arbeitsaufträgen, für die die Lehrerinnen der Kinder bergeweise Dossiers und Arbeitshefte zusammengestellt haben. Deshalb haben wir den Vormittag zur Homeschooling-Zeit erklärt. Inklusive Pausen, darauf bestehen die Kinder: Pünktlich um 10:30 Uhr fällt Tag für Tag die Tür ins Schloss und die Kinder toben sich im Hof aus. Hirnforscher würden das mit hocherhobenem Daumen quittieren, lese ich: Bewegung aktiviert den motorischen Kortex, unsere Steuerzentrale für Koordination im Gehirn. Zugleich nimmt sich aber der präfrontale Kortex zurück, der für logisches Denken und Planen zuständig ist.

Unser Körper verschafft also dem Gehirn genau die Pause, die es zwischendurch benötigt, Konzentration und Denkvermögen sind danach wieder um einiges besser.

Die Macht der Musik

An anderen Tagen lassen die Kinder Scooter und Fussball in der Ecke: Ich bin überrascht, wie viel Raum Musik in ihrem Leben einnimmt. Ich mag Musik auch, aber meine Gitarre verstaubt mit zwei gerissenen Seiten schon seit Jahren hinter der Schlafzimmertür. Diese Vorliebe ist also nichts Genetisches. Dass die Tochter sich mit ihrem Cello hin- und der Sohn die Kopfhörer aufsetzt, macht neurophysiologisch aber Sinn: Beide tauchen dabei weg und danach motiviert und ausgeruht wieder auf.

Tatsächlich finde ich zahlreiche Untersuchungen dazu, was Musik mit dem Gehirn anstellt. 2006 zum Beispiel belegten Forscher der Glasgow Caledonian University, dass Musik die Konzentrationsfähigkeit steigert – solange es die Lieblingsmusik ist. Selbst ein Instrument spielen müsse man dafür nicht unbedingt: Im MRI zeigte sich, dass der Effekt aufs Gehirn ähnlich war – wahrscheinlich summten die Probanden im Geiste mit. Ausserdem animiert Musik das Gehirn dazu, grosse Mengen des Botenstoffs Dopamin freizusetzen, das auch als Glückshormon gilt. Die Folge: Wir fühlen uns wohl, aktiv und erholen uns.

Pausen müssen sein

Überhaupt, Pausen. Nur in Blöcken von 20 Minuten müssen zehnjährige Kinder konzentrierte Arbeit durchhalten, erklärt uns ein Infoblatt der Schule. Wie oft mahne ich, «da muss man sich halt mal durchbeissen und dranbleiben», wenn der Eifer nachlässt? Die Folge sind totale Mathe-Blockaden, Rechtschreib-Blackouts, Flüchtigkeitsfehler. Für Erwachsene sieht die Sache nicht viel anders aus, zeigt meine Recherche. Zwar halten wir länger durch, aber nach 70 bis 80 Minuten hochkonzentrierter Tätigkeit schaltet der Körper für etwa 20 Minuten automatisch auf Erholungsmodus.

Kurze proaktive Pausen sind für die Erholung zwischendurch also mehr als sinnvoll – vor allem, wenn man ihr Timing selbst bestimmt. Noch besser, wenn man solche Pausen mit angenehmen Menschen verbringen kann.  

Freunde wirken wie Kurzurlaub 

Wie kostbar echte zwischenmenschliche Kontakte sind, erfahren wir schmerzlich in diesen Wochen des Social Distancing. Gemeinsam mit zwei Nachbarsfamilien bilden wir in dieser Zeit eine geschlossene Schicksalsgemeinschaft, um uns gegenseitig im Homeoffice bei der Kinderbetreuung zu entlasten. Die Kinder suchen die Gesellschaft, ich suche Studien – und finde sehr interessante Erkenntnisse darüber, wie erholsam für uns positive zwischenmenschliche Kontakte sind. Wenn wir uns mit Menschen umgeben, die wir mögen und die uns guttun, ist das wie Ferien für Kopf und Seele: Die Hirnsysteme, die uns normalerweise vorantreiben, fahren herunter. Wir lassen Pläne Pläne sein und sind einfach im Moment, plaudern, machen Spässe – ohne Ziel und Vorausplanung.

Verzeihen lernen

Gleichzeitig, auch das ist klar, herrscht nicht immer eitel Sonnenschein, wenn sechs Kinder zwischen fünf und zehn jeden Tag miteinander auskommen müssen. Es kracht – überraschend selten, aber gelegentlich geht es dabei durchaus gemein zu. Manchmal trifft es auch meinen Sohn, er ist wütend, es fliessen sogar Tränen, und ich fürchte, er hat ernsthaft genug von seinen beiden Freunden. Am nächsten Tag ernte ich aber auf die Frage, «und, alles wieder okay?», nur einen ratlosen Blick: «Wieso, was war?».

Es ist eine sehr erwachsene Eigenschaft, fürchte ich, Misstönen ewig hinterher zu grübeln. Das raubt Energien und stiehlt uns kostbare Erholungsphasen. Studien belegen, dass Ärger, den wir in uns hineinfressen, unser Herz-Kreislauf-Risiko erhöht. Eine Untersuchung der Stanford University in Kalifornien konnte sogar zeigen, dass Teilnehmer nach einem Kurs im Verzeihen gesünder und weniger verspannt waren – und sogar noch Monate später fitter und optimistischer.  

Eigentlich ein Kinderspiel: ganz im Moment sein. Im Erwachsenen-Jargon heisst das Achtsamkeit.

Im Moment sein

Wo bei mir Termine, Timelines und To-Do-Listen den Tag diktieren, herrscht auf Seiten der beiden jugendlichen Familienmitglieder oft aufreizende Ziellosigkeit. In den letzten Wochen haben wir die meisten Nachmittage im Wald verbracht – zur Entlastung der Nachbarn, für mehr Freiheiten für die Kinder. Allein der Weg dorthin frisst die Hälfte des Nachmittags. Unterwegs werden Stöcke gesucht, Umwege entdeckt und Hindernisse bezwungen. Im Wald werden mit Hingabe Lanzen geschnitzt, Höhlen gebaut, Zaubertränke gebraut. Warum? «Einfach weil’s Spass macht, halt.»

Achtsamkeit würden Erwachsene das nennen, und finden Ähnliches in einem Hobby oder auch beim Meditieren: Das Aufgehen in einer Tätigkeit, ohne nach dem Sinn zu fragen, und ganz im Moment zu sein. Der Effekt ist messbar: Im anterioren cingulären Cortex, einem Gehirnbereich hinter der Stirn, sitzt die Steuerung unserer Aufmerksamkeit und unseres Verhaltens.

Bei Menschen, die viel meditieren und sich in Achtsamkeit üben, ist dieses Areal besonders aktiv und sie schneiden in puncto Konzentration besonders gut ab. Ausserdem schrumpft der Mandelkern, der Ort, wo das Angstzentrum sitzt, wenn wir es uns gestatten, regelmässig in einer Aufgabe zu versinken. Der Hippocampus dagegen scheint zu wachsen – er ist für unsere Gedächtnisfunktionen zuständig. Wenn ich also das nächste Mal sehr zielorientiert durch den Tag haste und mit den Gedanken schon drei Schritte weiter bin statt im Moment, höre ich auf das «Chill deine Base, Mama!». Das heisst, ich soll locker bleiben. Ich hab’s verstanden.

Regeneration: Sechs kleine Schritte zu mehr Erholung

  • Bewegung trägt aktiv zur Erholung bei und liefert das ideale Setting für eine Denkpause.
  • Musik macht glücklich und ausgeglichen – egal, ob man der Lieblingsband lauscht oder selbst zum Instrument greift. Oder singt.
  • Bewusste Pausen müssen sein, spätestens nach 80 Minuten fokussierter Arbeit. Danach steigt das Konzentrationsvermögen wieder messbar an.
  • Positive Mitmenschen tun gut. Nie gelingt es leichter, Grübeln und To-Do-Listen sein zu lassen und den Moment zu geniessen.
  • Sich von negativen Gefühlen zu lösen und Missstimmungen abzuhaken verbessert die Regeneration.
  • Achtsam sein geht auch ohne Meditation. Kleine Augenblicke bewusst wahrzunehmen und immer wieder innezuhalten, und sei es nur für einen Blick aus dem Fenster, sind Mini-Erholungsinseln im Alltag.

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