Wie komplementäre Medizin die klassische ergänzt

Claudia Witt, Direktorin des Instituts für Komplementäre und Integrative Medizin am Universitätsspital Zürich, spricht über die Chancen der Komplementärmedizin, was richtiges Atmen bewirken kann und warum sie den Placebo-Effekt mag.

Text: Anna Miller; Foto: Désirée Good

Warum ist Ihnen als Ärztin die klassische Medizin nicht genug?

Als ich Medizin studierte, gab es wenig wissenschaftliche Daten zur Komplementärmedizin. Mich hat aber immer fasziniert, dass sie so viele Menschen ausprobieren und davon überzeugt sind. Viele kommen privat damit in Berührung, lesen von Homöopathie oder versuchen es mit Akupunktur. Und erfahren nicht selten, dass solche Verfahren wirken. Das hat mich neugierig gemacht, den Bereich der Komplementärmedizin genauer zu erforschen. So habe ich mich etwa mit Studien zur Akupunktur befasst.

Was kam bei diesen Studien heraus?

Dass Akupunktur einen nachweisbaren Effekt auf chronische Schmerzen hat. Aber auch einen Placebo-Effekt.

Ist das nicht per se ein Widerspruch? Will man nicht «echte» Wirksamkeit erreichen, statt bloss eingebildeter?

Das ist so falsch formuliert. Denn auch der Placebo-Effekt führt ja zur Verbesserung. Er kann ein wirksames Arzneimittel noch wirksamer machen. Das gilt auch für die Komplementärmedizin: Sie wird idealerweise zusätzlich zur schulmedizinischen Behandlung angewendet. Die Methoden ergänzen sich. Es geht mir nie darum, Methoden gegeneinander auszuspielen, sondern den Menschen ganzheitlich zu sehen.

Was heisst das konkret?

Nehmen Sie einmal an, Sie leiden an chronischen Schmerzen. Statt Ihnen einfach nur Tabletten zu verschreiben, hört man Ihnen erstmal gut zu und befragt Sie zu Ihren Lebensumständen. Das kann schon vieles sortieren. Häufig verstehen Menschen dann ihren Körper besser. Das fördert die Selbstwirksamkeit.

«Auch der Placebo-Effekt führt zur Verbesserung. Er kann ein wirksames Arzneimittel noch wirksamer machen.»
Claudia Witt, Direktorin des Instituts für Komplementäre und Integrative Medizin Universitätsspital Zürich

Wie wichtig ist dieser Aspekt für den Heilungsprozess?

Die Komplementärmedizin eröffnet neue Räume für Menschen, die dachten, es helfe nichts mehr. Es ist für sie sehr wertvoll, zu erfahren, dass sie doch eine gewisse Kontrolle über eine Krankheit haben und der Situation nicht hilflos ausgeliefert sind. Wichtig sind zudem begleitende Massnahmen, die den Lebensstil positiv beeinflussen und bei denen sich Erkrankte aktiv einbringen können – wie gesündere Ernährung, Atemübungen oder mehr Bewegung.

Können Sie ein konkretes Beispiel aus Ihrem Berufsalltag nennen?

Bei Brustkrebs beispielsweise leiden viele Patientinnen im Zuge der Behandlung auch unter Hitzewallungen, Schlafstörungen oder Erschöpfung. Also suchen wir gemeinsam nach einer Lösung: Welche Methode spricht die Patientin an? Welches komplementärmedizinische Angebot kann die medikamentöse Behandlung zusätzlich unterstützen? Bei den genannten Symptomen könnte beispielsweise Akupunktur helfen.

Viele Menschen wählen die Komplementärmedizin aber an Stelle einer schulmedizinischen Methode.

Es ist mir wichtig, zu betonen, dass wir die Komplementärmedizin nicht als Alternative zur Schulmedizin anwenden, sondern als Ergänzung. Damit haben wir eine breitere, flexiblere Palette. Als Ärztin kann ich so sozusagen auf einen Werkzeugkasten zurückgreifen, der zusätzliche nützliche Tools enthält.

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