Pille um Pille – süchtig nach Medikamenten
Wenn man nicht mehr ohne sein kann: Eine Sucht gefährdet die Gesundheit und beeinträchtigt die Lebensqualität. Auch bei gewissen Medikamenten ist Vorsicht geboten. Wie schleicht sich eine Medikamentensucht ein, welches sind die ersten Anzeichen und wie kommt man davon wieder los?
Sucht hat viele Gesichter. Nicht nur Drogen, Alkohol und Tabak, auch Medikamente können abhängig machen. Oft schleichend und unbemerkt. Denn Arzneimittel sind einfach zugänglich und gelten als unproblematisch. Laut Schätzungen nehmen in der Schweiz aber rund 400’000 Menschen täglich Medikamente mit Suchtpotenzial ein. Ein Konsum, der bedenklich ist. Vor allem Schlaf- und Beruhigungsmittel aus der Gruppe der Benzodiazepine, umgangssprachlich auch «Benzos» genannt, und der Z-Gruppe sowie starke, opiathaltige Schmerzmittel bergen ein hohes Suchtrisiko – wenn sie unsachgemäss eingenommen werden.
Die Abhängigkeit von Benzodiazepinen steht nach der Nikotin- und der Alkoholabhängigkeit schweizweit heute bereits an dritter Stelle. Auch Medikamente zur Behandlung von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen, bekannt ist etwa Ritalin, können abhängig machen und sollten nur zur Behandlung einer ADHS eingenommen werden. Dasselbe gilt für Hustenmittel mit den Wirkstoffen Codein oder Dextromethorphan, die bewusst überdosiert und missbräuchlich konsumiert werden.
«Sucht ist eine Krankheit, die vermieden und vor allem auch geheilt werden kann.»
Ab wann ist man süchtig?
Doch längst nicht alle Medikamente machen abhängig. Selbst dann nicht, wenn sie dauerhaft eingesetzt werden. Zwar gibt es bei vielen Arzneimitteln wie etwa Antidepressiva einen Gewöhnungseffekt, dieser entspricht aber noch lange keiner Sucht. Der Körper oder die Psyche gewöhnen sich schlicht an die Wirkung und reagieren, wenn das Medikament abgesetzt wird.
Was ist also eine Sucht? «Eine Abhängigkeit ist eine medizinisch diagnostizierbare Erkrankung, sie hat nichts mit Willensschwäche zu tun», erläutert Domenic Schnoz, Leiter der Zürcher Fachstelle zur Prävention des Suchtmittelmissbrauchs (ZFPS). «Die Sucht ist eine Krankheit, die vermieden und vor allem auch geheilt werden kann.» Für eine Suchtdiagnose müssen mindestens drei der folgenden sechs Symptome innerhalb der letzten zwölf Monate gegeben sein:
- Ein starker Zwang oder Wunsch, das Medikament einzunehmen.
- Toleranzentwicklung gegenüber dem Medikament. Wenn also die Dosis oder die Häufigkeit der Einnahme erhöht werden muss, um die gleiche Wirkung zu erzielen.
- Körperliche Entzugserscheinungen, sobald man das Medikament absetzt oder die Dosis verringert.
- Geringe Kontrolle über den Zeitpunkt und die Häufigkeit des Konsums.
- Vernachlässigung anderer Aktivitäten zugunsten des Konsums, der Beschaffung der Substanz oder der Erholung vom Konsum.
- Eindeutig nachweisbare Folgeschäden.
Ob jemand tatsächlich süchtig ist, kann aber nur eine Fachperson diagnostizieren. Denn die landläufige Einschätzung von Sucht unterscheide sich oft von der medizinischen Diagnose, sagt Schnoz. «Nur weil ich morgens beim Aufstehen nicht zittere und nicht sofort nach einem Glas Wein greife, ist das kein Beweis, dass ich nicht süchtig bin.»
«Auch der Patient oder die Patientin tragen eine Verantwortung: Sie sollten nachfragen, sich selber gut informieren und Alternativen in Betracht ziehen.»
So kommt es zur Medikamentenabhängigkeit
Das Risiko einer Suchtentwicklung besteht vor allem dann, wenn eine Person ein verschreibungspflichtiges Medikament ohne ärztliches Rezept oder anders als verschrieben einnimmt – etwa in zu hoher Dosis, über einen zu langen Zeitraum oder ohne medizinische Notwendigkeit. Ein solcher Medikamentenmissbrauch kann lebensgefährlich sein, insbesondere wenn Alkohol oder andere Substanzen mit im Spiel sind.
Selbst wenn Ärzte die Medikamenteneinnahme überwachen, kann es zu einer Abhängigkeit kommen. Auch wenn das Risiko um einiges geringer ist. Doch eine Niedrigdosisabhängigkeit etwa ist schwierig zu erkennen, da die Dosis nie erhöht worden ist und die Entzugserscheinungen den ursprünglichen Symptomen ähnlich sind. So kann es sein, dass eine Patientin wieder Unruhe und Angstzustände verspürt, nachdem sie ihre Schlaf- und Beruhigungstabletten abgesetzt hat. Was dann wie Symptome aussieht, sind tatsächlich Entzugserscheinungen.
Um eine Medikamentenabhängigkeit zu verhindern, sind alle Involvierten gefragt. «Der Arzt oder die Ärztin müssen die Medikamente sorgfältig verschreiben und die Einnahme begleiten. Aber auch der Patient oder die Patientin tragen Verantwortung: Sie sollten nachfragen, sich selber gut informieren und Alternativen in Betracht ziehen», sagt Suchtexperte Schnoz. Bei Unsicherheit darf eine Zweitmeinung eingeholt werden. Oberstes Gebot: Rezeptpflichtige Medikamente dürfen nur durch einen behandelnden Arzt verschrieben werden und müssen auf allfällige andere Medikamente des Patienten abgestimmt sein.
Alternativen und Entzug
Wer bei sich selbst oder bei Angehörigen den Eindruck hat, sie oder er sei medikamentenabhängig, sollte sich dringend fachliche Unterstützung holen. Ein kalter Entzug auf eigene Faust ist keine gute Idee. Denn dieser ist einerseits mit reiner Willenskraft fast nicht zu bewerkstelligen, andererseits kann es zu schwerwiegenden, lebensbedrohlichen Komplikationen kommen. Die Art der Therapie hängt von persönlichen Voraussetzungen und Vorlieben ab: Möglich sind ein Entzug mit dem Hausarzt zu Hause, eine ambulante Therapie in einer entsprechenden Einrichtung oder ein stationärer Aufenthalt in einer Klinik.
Medikamente können eine wichtige Säule der Behandlung sein, sind aber nicht die Lösung für jedes Problem. Gerade Schlaf- und Beruhigungsmittel sind meist für den Einsatz bei Krisen und nicht für den dauerhaften Gebrauch gedacht. Alternativen zur medikamentösen Behandlung lassen sich aber nicht verallgemeinern, wie Schnoz betont.
«Ob Verhaltenstherapie, Physiotherapie oder Alternativmedizin hilft, muss jede Person selbst herausfinden. Bei Schmerzthematiken gibt es beispielsweise Fälle, in denen eine Verhaltenstherapie besser als Medikamente nützt.» Mehr Bewegung im Alltag, die Lebensweise anpassen, weniger sitzen, eine neue Matratze – all dies kann zur Schmerzlinderung beitragen. Auch Schlaf- und Beruhigungsmittel lindern meist nur das Symptom, nicht aber die Ursache und bieten in der Regel keine dauerhafte Lösung. Wichtig ist es, den Menschen längerfristig zu begleiten und das Problem auf allen Ebenen anzugehen.
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suchtindex.ch
Das nationale Verzeichnis von Beratungsstellen für Suchtfragen, ein Angebot der Schweizerischen Koordinations- und Fachstelle Sucht.
suchtschweiz.ch
Das Kompetenzzentrum für Prävention, Forschung und Wissensvermittlung im Suchtbereich bietet auf seiner Website wichtige Informationen zum Thema Sucht. Eine umfrangreiche Liste mit Anlaufstellen bei Suchtproblemen rundet das Angebot ab.
savezone.ch
Die anonyme Onlineplattform für Suchtberatung.
suchttest.ch
Die Suchtprävention des Kantons Zürich bietet diverse anonyme Onlinetests, um das eigene Konsumverhalten einzuschätzen.