Dossier: Starke Psyche

Placebo-Effekt: Schein und Sein

Es gibt Medikamente, die keine sind und dennoch wirken. Andersrum macht allein das Wissen um mögliche Nebenwirkungen manchmal krank. Wie kann das sein? Und wie können wir diese Mechanismen im Alltag nutzen?

Text: Katharina Rilling; Foto: iStock

Die Grossmutter klebt ein Pflaster auf die Wunde der Enkelin oder pustet kurz aufs geschürfte Knie – und schon tut es kaum noch weh. Im Alltag und bei kleinen Unfällen haben wir alle schon die erstaunliche Kraft der Gedanken erlebt. Bekannt ist das Phänomen aber aus der Medizin und heisst Placebo-Effekt.

Der Placebo-Effekt: Was ist das?

Ursprünglich wurden Placebos, also Medikamente, die keinerlei Wirkstoff enthalten, in klinischen Studien eingesetzt. Sie sollten echte Behandlungen und Nichtbehandlungen vergleichbar machen. Überraschend war aber, dass sich oft auch die Beschwerden der Vergleichsgruppen verbesserten – also derjenigen, die eigentlich eine wirkungslose Substanz, ein Scheinmedikament, erhalten hatten. Inzwischen ist der Effekt gut belegt. Schätzungen gehen sogar davon aus, dass bei rund jeder dritten Person Placebos in irgendeiner Form Einfluss auf die Genesung nehmen. Teilweise sprechen in Untersuchungen sogar fast alle – 90 Prozent der Teilnehmenden – darauf an. Tendenziell hilft die wirkstofflose Medizin Frauen etwas besser als Männern.

Es geht dabei aber um mehr als nur um Einbildung. Der Effekt funktioniert nämlich auch bei grossen Leiden wie Depression, Parkinson oder Migräne, etwa indem körpereigene schmerzlindernde Botenstoffe wie Endorphine oder Dopamin freigesetzt werden. Die Veränderungen im Gehirn lassen sich nach der Scheinbehandlung sogar auf MRT-Bildern nachweisen. Allerdings helfen sie auch nicht immer: Sind Hirnfunktionen sehr stark beeinträchtigt – zum Beispiel bei Alzheimer –, bleibt der Placebo-Effekt aus.

Angst und Nocebo-Effekte

Der positive Effekt kann aber auch ins Gegenteil kippen: Nocebo-Effekte bezeichnen negative gesundheitliche Folgen, die eigentlich nicht mit der Behandlung zusammenhängen können. Sie werden etwa durch das Lesen der möglichen Nebenwirkungen auf dem Beipackzettel oder die Angst vor dem Zahnarzt ausgelöst. So ist der verängstigte Patient oft schmerzempfindlicher als der zuversichtliche. 

Was verstärkt den Placebo-Effekt?

Wer seiner Behandlung und dem Ärzteteam vertraut, sieht, wie die Therapie bei anderen wirkt, und eine Verbesserung bei sich selbst erwartet, wird stärker profitieren. Wichtig ist daher, dass der Arzt oder die Ärztin sich Zeit nimmt und signalisiert: «Dieses Medikament wird Ihnen helfen.» Eine zum normalen Medikament eingenommene Placebo-Pille kann dessen Wirkung verstärken – ohne weitere Nebenwirkungen. Auch der Status des Behandelnden wird wahrgenommen: Von der Chefärztin verabreichte Placebos wirken stärker als von Pflegern verabreichte.

Daneben ist die Erfahrung mit echten Wirkstoffen entscheidend. Wer das Prickeln und den Geschmack einer Schmerztablette im Wasserglas im Gehirn mit Schmerzlinderung verknüpft hat, dem kann plötzlich auch eine einfache Brausetablette helfen. Allein durch die Sinneseindrücke, die wieder hervorgerufen werden. Übrigens: Weil unbewusste neurobiologische Prozesse mitspielen, wirken Scheinmedikamente sogar dann, wenn «Placebo» fett auf der Pillendose steht. 

So sollten Placebos aussehen

Studien zeigen, dass farbige Zuckerpillen einen grösseren Placebo-Effekt auslösen als weisse. Grosse und kleine wirken stärker als mittelgrosse. Blaue Kapseln werden als beruhigend empfunden, rote als anregend. Auch sollte ein Placebo-Medikament bitter und medizinisch schmecken.

Spritzen, Scheinoperationen, bei denen die Haut nur oberflächlich eingeschnitten wird, und Scheinakupunktur, bei der die Nadeln die Haut nicht wirklich durchstechen, entfalten oft einen noch grösseren Placebo-Effekt als Pillen, schreibt das Wissenschaftsmagazin «Quarks». Hier spielte einmal mehr die Erwartungshaltung eine grosse Rolle: Die meisten Menschen halten invasive Behandlungsmethoden für wirkungsvoller.

Leichter lernen dank Placebos

Was in der Medizin funktioniert, lässt sich auch auf andere Bereiche übertragen, zum Beispiel aufs Lernen. Dabei kann alles als Placebo dienen, was mit etwas Schönem verbunden wird. Wir müssen dazu keine Scheinpillen einnehmen, das Ritual oder eine Geste genügen.

Ein Beispiel: Wer die Erfahrung gemacht hat, dass eine Joggingrunde vor einer Prüfung wirkt, der weiss, was er beim nächsten Mal zu tun hat. Auch Musik oder Meditation können helfen, sich besser zu konzentrieren. Sie haben zwar per se schon eine positive Wirkung auf unsere Denkfähigkeit, ritualisiert lässt sich diese aber weiter verstärken. Der Placebo-Effekt wirkt dann als «mentaler Anker», als Sicherheit.

Wie in der Medizin zum Arzt oder zur Ärztin ist auch in der Schule das Vertrauensverhältnis zur Lehrperson wichtig. Wer im Glauben bestärkt wird, schwierige Aufgaben lösen zu können, lernt lieber und besser. Schüler und Schülerinnen, die ständig kritisiert werden, trauen sich hingegen weniger zu, was sich negativ auf die Noten auswirkt.

Dass Mädchen in Mathe irgendwann schlechter abschneiden als Buben, wird auf diesen Nocebo-Effekt zurückgeführt. Schliesslich sind sie anfangs genauso gut und teils sogar besser im Rechnen als ihre männlichen Mitschüler. Den Kindern, Eltern und Lehrpersonen diese Mechanismen immer wieder bewusst zu machen, kann sie aber abschwächen.

Der Placebo-Effekt für Führungspersonen

Auch Führungspersonen können den Effekt nutzen und ihre Mitarbeitenden motivieren. Wer den Mitarbeitenden erklärt, dass sie sich wegen des schwierigen Marktes nun noch mehr anstrengen müssten, setzt einen kollektiven Nocebo-Effekt in Gang. Das Gehirn konzentriert sich dann auf Gefahren und Probleme statt auf Lösungen.

Die Folge? Stress und Schnellschüsse. Auch hier gilt: Lieber mit positiven Worten optimistische Bilder vom Gelingen der Vorhaben zeichnen. Und zeigen, dass man ans Team glaubt. Führungspersonen sollten den Mitarbeitenden also ein Gefühl von Fürsorge und Sicherheit geben, genauso wie die Ärzte und Ärztinnen oder Lehrpersonen. Und: Teamrituale stärken, wenn eine schwierige Phase bevorsteht! Die Erfolge und die Motivation von Kolleginnen und Kollegen können dazu beitragen, dass man positiv an seine Aufgaben herangeht.

Weniger Schweiss beim Sport: dank Placebo-Effekt

Freiburger Forschende haben auch beim Sport einen Placebo-Effekt entdeckt. Wer glaubte, dass er oder sie sportlich sei und das Training wohltuend sein würde, empfand es als tatsächlich weniger schweisstreibend als diejenigen, die sich als unfit einstuften. Sportmagazine, Apps und Dokumentationen können dabei helfen, Sport im Kopf positiv zu besetzen. Dann wird das Training als Wellness und Me-Time statt als Schinderei wahrgenommen.

Sich etwas Neues zu gönnen, kann ebenfalls helfen: Die Forschenden haben herausgefunden, dass sich Sportprodukte wie Kompressionsshirts ebenfalls auf die sportliche Leistung auswirken. Allein der Glaube daran, dass sie uns beim Training unterstützen, macht uns leistungsfähiger.

Die Kraft des Nichts kann sogar noch weiter reichen. Forscherinnen an der Stanford-Universität haben herausgefunden: Wer denkt, er sei überdurchschnittlich fit und gesund, der lebt im Schnitt wahrscheinlich schon allein deshalb länger.

Teilen