Dossier: Starke Psyche

Wann wird aus Gewohnheit Sucht?

Süchte beginnen schleichend – und oftmals gaukelt man sich selbst lange vor, jederzeit wieder aufhören zu können. Caroline Zeller, Klinische Psychologin/Suchttherapeutin, erklärt, was am Ausstieg aus der Abhängigkeit so schwierig ist und wie dieser gelingen kann.

Text: Irène Schäppi / Caroline Zeller; Foto: iStock

Frau Zeller, wie definiert man Sucht?

Definitionen und medizinische Diagnosen von Substanzmissbrauch und Abhängigkeit sind wandelbar und ein Spiegelbild ihrer Zeit. Sie unterscheiden sich beispielsweise in puncto Kriterien, Ursachen und Erklärungsansätzen. Heute definieren die internationalen Krankheits-Klassifikationssysteme ICD-10 und DSM-5 der Weltgesundheitsorganisation WHO , was im professionellen Kontext unter einer Abhängigkeitserkrankung verstanden wird.

Ein Kriterium ist beispielsweise, wenn man in kritischen Lebenssituationen ein Suchtmittel als Lösungsstrategie für den emotionalen Ausgleich einsetzt. So entsteht über einen längeren Zeitraum eine psychische und physische Abhängigkeit und der Konsum nimmt zu. Typisch ist auch, dass Suchtmittel wie beispielsweise Alkohol, Tabak und illegale Drogen zunehmend gemischt werden.

Bei einer Verhaltensabhängigkeit hingegen geht man davon aus, dass ein Verhalten oder eine Aktivität länger und intensiver durchgezogen wird als eigentlich beabsichtigt. Ein weiteres deutliches Zeichen ist, dass man die Kontrolle verliert und einfach nicht mehr aufhören kann. Und natürlich gehört die zunehmende Vernachlässigung sozialer Kontakte und beruflicher Belange dazu. 

Wann spricht man von einer Verhaltenssucht und wann von einer stoffgebundenen Abhängigkeit?

Verhaltenssüchte sind substanzungebundene Abhängigkeiten. Darunter fallen beispielsweise die Sex-, Kauf- und Internetsucht. Üblicherweise versteht man unter Abhängigkeit und Suchtverhalten aber eher die stoffgebundenen Abhängigkeiten, zum Beispiel die Abhängigkeit von Nikotin, illegalen Drogen oder Alkohol.

Aus diesem Grund werden Verhaltenssüchte im erwähnten Diagnosesystem ICD-10 nicht als eigenständige Störungsbilder gelistet. Stattdessen werden die Verhaltenssüchte dort als abnorme Gewohnheit und Störung der Impulskontrolle aufgeführt. Das ändert sich nun: Im neuen ICD-11-Katalog ist erstmals die Spielsucht als eigene Krankheit aufgeführt.

Wie entstehen Süchte?

Die Auslöser sind vielfältig und reichen von genetischen und neurobiologischen bis hin zu umweltbedingten und psychischen Faktoren. Sie hängen also einerseits davon ab, welchen Umgang mit Emotionen eine Person in der Familie erlernt bzw. mit auf den Weg bekommen hat und welche Geschichte der Mensch mitbringt. Und andererseits davon, ob es eine Anfälligkeit gegenüber Abhängigkeitserkrankungen innerhalb der Familie gibt.

Genetische Studien bestätigen einen Zusammenhang mit der Vererbung – aber nicht als unabänderliches Schicksal, denn es gibt ja auch Kinder aus suchtbelasteten Familien, die selbst abstinent leben. Neurobiologische Faktoren dagegen lassen sich durch den Glücksbotenstoff Dopamin erklären, von dem Abhängige nicht genug bekommen können.

Letztlich ist es aber eine Frage der Selbstwirksamkeit oder Resilienz, ob ein Mensch in eine Sucht schlittert: Was traue ich mir zu, wo möchte ich mich entwickeln, wie ist mein Standing, wie gehe ich mit kritischen Lebensereignissen um, habe ich einen Ressourcenkoffer bei mir? Die Entscheidung, zu konsumieren, liegt bei jedem und jeder Einzelnen selbst.

Welche Therapien helfen bei einer Sucht?

Es gibt viele Wege und wenn sie einem guttun, ist alles möglich. Das kann eine Begleitung beim Entzug oder eine stationäre Entwöhnung sein, aber auch ambulante Therapien oder Nachsorgegruppen gehören dazu.

Wichtig sind regelmässige Beratungsgespräche über einen längeren Zeitraum, damit man bei einem Rückfall gleich wieder andocken kann. Gespräche mit einer Vertrauensperson über negative emotionale Erlebnisse helfen oft, die Perspektive zu wechseln und Lösungswege zu finden.

Kann man von einer Sucht jemals gänzlich geheilt werden?

Subjektiv betrachtet kann man sich wieder gesund fühlen. Die WHO beispielsweise spricht aber nirgends von einer klassischen Genesung, die Diagnose «Abhängigkeit» begleitet einen durchs ganze Leben. Ist das Suchtgedächtnis einmal aktiviert, können die Suchtgedanken durch eine gute Aufarbeitung und Therapie zwar in den Hintergrund treten, ein Rückfall ist aber noch Jahrzehnte später jederzeit möglich.

Wie sollen Nahestehende von Betroffenen auf deren Suchterkrankung reagieren?

Wir ermuntern Nahestehende – das können auch Arbeitskolleg:innen sein – dazu, das Thema nicht unter den Tisch zu kehren, sondern durch sogenannte «Ich-Sätze» zu benennen, was sie bemerkt haben. Und mitzuteilen, dass man die Person weiterhin wertschätzt. Vorwürfe und Schuldzuweisungen bringen meist wenig. Gleichzeitig ist es aber für Nahestehende wichtig, sich selbst vor einer Co-Abhängigkeit zu schützen. Auch Angehörigen stehen Beratungsgespräche zu. 

Wenn die Kommunikation zwischen allen Beteiligten nicht mehr funktioniert, kann es aber auch zu einem klaren Schnitt kommen. Es zählt vor allem ein konsequentes Verhalten, und das wiederum bedeutet, nicht gleich wieder weich zu werden – etwas, was für nahestehende Personen verständlicherweise schwierig ist. Aber das Helfersyndrom ist in der Konfrontation mit Suchtkranken leider nicht förderlich. Oft müssen Betroffene in der Abwärtsspirale noch weiter hinunter. Denn den Entschluss, ihrer Sucht entgegenzutreten, müssen Sie aus eigenem Antrieb fassen.

Zur Person

Caroline Zeller ist Gesundheits- und Klinische Psychologin/Suchttherapeutin in Garmisch-Partenkirchen und begleitet im Rahmen ihrer Tätigkeit als Abteilungsleiterin auch abhängige Menschen.

Teilen