Wenn Erfahrung auf Expertise trifft

Gesammeltes Patientenwissen bringt die Forschung weiter. Patientennetzwerken kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle zu, die in der Schweiz weiter gestärkt werden sollte, sagt Agnes Nienhaus von der Nationalen Koordination Seltene Krankheiten.

Text: Nicole Krättli; Foto: iStock

Jahrzehntelang waren die Rollen klar verteilt: Vermeintlich unwissende Kranke gingen zu vermeintlich allwissenden Ärzten, um sich behandeln zu lassen. Noch eindeutiger war die Verteilung in der Forschung, wo die Erfahrungen, Bedürfnisse, aber auch das Wissen der Erkrankten selbst kaum als wertvolle Informationsquelle genutzt wurde. Spätestens seit sich Patientinnen und Patienten digital Informationen holen und sich gleichzeitig mit anderen Betroffenen vernetzen können, hat sich dieses Machtverhältnis aber stark verändert. Zum Guten, wie sich zeigt.

Forschungsprojekt dank Patientenengagement

Was möglich ist, wenn sich Patientinnen und Patienten zu Netzwerken zusammenschliessen, zeigte sich etwa im Fall von Cluster-Kopfschmerzen. Diese Art von Kopfschmerzen kann so qualvolle Episoden auslösen, dass jeder vierte Betroffene während einer Schmerzattacke sogar schon einmal Suizidgedanken entwickelt hat. Weltweit haben sich deshalb Betroffene zusammengetan, um Daten zu diesen Kopfschmerzattacken zu sammeln.

Dank dieser Informationen fanden die Patientinnen und Patienten heraus, dass unter anderem die Behandlung mit Magic Mushrooms (Pilzen) merkliche Linderung brachte. Die Resultate waren so überzeugend, dass Forschende aus den USA die Therapie mit Magic Mushrooms sogar in klinische Studien aufnahmen. Während eines Sanitas Anlasses zum Thema «Zukunftsmedizin» erklärte Forscher Bastian Greshake Tzovaras in diesem Zusammenhang: «Wenn Patienten und Akademiker gemeinsam forschen, profitieren beide Seiten davon. In Zukunft muss die Forschung die Patienten, die eigene Forschung betreiben, ernst nehmen.»

Hund Lancelot gab Hoffnung

Wie wirkungsvoll die Kraft einer grossen Anzahl Betroffener sein kann, zeigt sich auch am Beispiel von Menschen mit einer Netzhauterkrankung. Erst dank des Zusammenschlusses von Betroffenen zum globalen Retinal Information Network und zu nationalen Vereinigungen wie Retina Suisse hat die Forschung auf diesem Gebiet richtig Fahrt aufgenommen. Die Organisationen konnten Geld sammeln, als koordinierte Gruppe mit Wissenschaftlern sprechen und sie um Unterstützung in der Erforschung der verschiedenen Krankheitsbilder bitten. «Es ging darum zu sagen: ‹Hallo, wir sind auch noch hier. Helft uns!›», erklärt Stephan Hüsler, Geschäftsleiter von Retina Suisse. Im Jahr 1984 wurde aufgrund dieser Anstrengungen erstmals ein Gen als Krankheitsverursacher identifiziert. Mittlerweilse sind über 300 Gene bekannt, die nachweislich eine Erkrankung der Netzhaut begünstigen. Welche Chance diese Erkenntnis bietet, zeigt unter anderem die Geschichte von Lancelot.

Vor über 20 Jahren gab eine Gentherapie dem blinden Hund Lancelot das Augenlicht zurück und damit etlichen Menschen, die ihr Sehvermögen durch dieselbe Form der Netzhautdystrophie verloren hatten, Hoffnung. «Damals war immerhin bekannt, dass ein Gen mit dem Namen RPE65 zu einer frühen Zerstörung der Netzhaut führen kann», erklärt Hüsler von Retina Suisse. Wie sich die Erkrankung aufhalten lässt, zeigte jedoch erst die Erforschung des Gendefekts des schwedischen Hundes. Nach jahrelangen Tests wurde eine Variante der Behandlung, die Lancelot geheilt hatte, in einer klinischen Studie an Menschen erprobt. 

Im Jahr 2017 liess die US-amerikanische Behörde für Lebens- und Arzneimittel schliesslich diese Gentherapie zu. Ein Jahr später folgte die Zulassungsstelle der EU und vor zwei Jahren dann Swissmedic. Seit Ende des letzten Jahres wird die Behandlung in der Schweiz sogar von den Krankenversicherungen finanziert. Mit einer einzigen Behandlung kann nun in bestimmten Fällen die Zerstörung der Netzhaut aufgehalten werden. Genau dafür brauche es Patientenorganisationen, sagt Hüsler: «Bevor sich Patientenorganisationen für die Erforschung dieser Erkrankungen engagiert hatten, konnte man die Zerstörung der Netzhaut erst feststellen, wenn sie bereits Tatsache war. Heute weiss man aufgrund der Genforschung, wer sein Augenlicht verlieren wird, und kann dies in manchen Fällen sogar aufhalten.»

Als Einzelperson sei man für die Wissenschaft uninteressant. «Wenn eine Organisation aber zehntausend Betroffene zusammenbringt und stellvertretend für sie mit Wissenschaftlerinnen, Zulassungsbehörden und Versicherungen diskutieren kann, hat das eine ganz andere Kraft», ist Hüsler überzeugt.

Einbezug von Betroffenen ist auf allen Ebenen wichtig

«Kommen in der Forschung unterschiedliche Perspektiven und Expertisen zusammen, ist das äusserst wertvoll», findet auch Agnes Nienhaus, Geschäftsführerin der nationalen Koordination Seltene Krankheiten (kosek). Das ist aber gar nicht so einfach. «Man muss erst einmal Betroffene finden, was insbesondere bei seltenen Krankheiten sehr schwierig ist. Diese Betroffenen müssen zudem fähig und willens sein, ihre Erfahrungen zu teilen», erklärt Nienhaus. Entsprechend wichtig seien in diesem Zusammenhang Patientenorganisationen, die das Wissen ihrer Mitglieder sammeln, bündeln und in konstruktiver Form mit Forschenden teilen können. Hinzu komme die wichtige Frage, in welcher Form Patientinnen und Patienten in die Forschung einbezogen würden. «Das Ziel sollte sein, dass sich Patientinnen und Patienten schon bei der Formulierung der Forschungsfrage einbringen können», sagt Nienhaus. So könne sichergestellt werden, dass die Wissenschaft tatsächlich die dringendsten Probleme der Betroffenen aufnehme.

Für einen besseren Einbezug von Patientinnen und Patienten muss in der Schweiz allerdings noch viel getan werden. Nicht zuletzt deshalb, weil Patientenorganisationen nicht ausreichend gestärkt werden. «Man muss Patientinnen sowie Patientenorganisationen stärker unterstützen, damit sie ihre wichtige Rolle innerhalb der Forschung wahrnehmen können», findet die Geschäftsführerin der kosek. Dazu gehören aus Nienhaus’ Sicht auch Schulungsprogramme für Patientinnen und Patienten, die ihnen dabei helfen, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren, und sie in die Lage versetzen, diese den Fachpersonen auf einem hilfreichen Abstraktionslevel zu schildern. «Das ist für Laien gar nicht so einfach», weiss Nienhaus. Trotzdem bleibt sie zuversichtlich: «Ich denke, dass sich die Forschung in die richtige Richtung bewegt und das enorme Potenzial von Patienten und deren Erfahrung anerkennt.» 

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