Dossier: Familie

Das Wissen über Erbkrankheiten: Segen oder Fluch?

Gentests können das Risiko von Erbkrankheiten abschätzen. Doch will man das wirklich wissen? Wir gehen dem Für und Wider von Gentests nach.

Text: Claudia Landolt; Foto: Sanitas

Anna Gebhard* ist Mutter zweier Töchter im Rollstuhl. Vor der Pubertät wurden bei der älteren Tochter grobmotorische Auffälligkeiten konstatiert. Eine erste Abklärung durch die Neuropädiatrie ergab die Diagnose: Cerebralparese. Doch als die Symptome zunahmen und auch die jüngere Schwester plötzlich dieselben Auffälligkeiten zeigte, liess Anna das Gesamtgenom ihrer Kinder, ihres Mannes und auch das von ihr selbst abklären. Das Ergebnis konnte lebenseinschneidender nicht sein: Die beiden Mädchen leiden an einer seltenen neurodegenerativen Erbkrankheit. Es war klar, dass sie lebenslang auf Annas Hilfe angewiesen sein werden.

Das Wissen um Erbkrankheiten: Eltern und ihre Schuldgefühle

Die Diagnose riss Anna den Boden unter den Füssen weg. Denn erst durch die genetische Diagnostik erfuhr Anna, dass sowohl ihr Mann als auch sie Träger eines Genfehlers sind, der bei ihren Töchtern die Krankheit auslöste – eine Erkrankung, von der Anna nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Hätte Anna keine Familie gegründet, wenn sie über das Risiko ihres Genpools Bescheid gewusst hätte? «Ganz ehrlich», antwortet Anna nach langem Zögern, «hätte ich gewusst, dass wir beide Träger dieser Erbkrankheit sind, hätte ich das Risiko, Kinder zu bekommen, vermutlich nicht auf mich genommen.» Viele Eltern mit erblichen Risikofaktoren fühlen sich schuldig, wenn der eigene Nachwuchs unheilbar erkrankt. Da Anna nichts von der Mutation auf einem Gen wusste, fühlt sie sich nicht schuldig, ihren Kindern die Erbkrankheit mitgegeben zu haben. «Ich wusste von dem erhöhten Risiko einer erblichen Erkrankung ja schlicht nichts.» Sie könne sich auch nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, mit der psychischen Belastung zu leben, auf den Ausbruch der Erbkrankheit zu warten. «Manchmal finde ich es aber so unfair, dass ich im Gegensatz zu ihnen gesund bin, mich uneingeschränkt bewegen und auch sonst alles machen kann, was ich will.»

Vernetzung ist für Menschen mit Erbkrankheiten ein wichtiger Anker

Was Anna in Momenten der Verzweiflung Halt gibt, ist die Vernetzung mit anderen Betroffenen über Kontakt- und Selbsthilfegruppen. Sie sagt: «Vernetzung ist das A und O, auch in finanzieller Hinsicht.» Denn chronisch kranke Kinder brauchen Betreuung rund um die Uhr. Bei so viel Care-Arbeit liege eine Berufstätigkeit beider Elternteile fast nicht mehr drin. Auch Anna hat vor einem Jahr ihren Job als Buchhalterin aufgegeben. Dass die Pflegeleistung von Eltern nicht anerkannt ist und entlöhnt wird, bringt Anna in Rage. «Kinder wollen nicht von Fremden betreut werden, sondern nur von ihren Angehörigen. Diese werden aber nicht als Pflegeassistenz anerkannt und für ihre Care-Arbeit auch nicht entschädigt. Gäben wir unsere Sprösslinge in eine Einrichtung, zum Beispiel ein Pflegeheim, würde es die Versicherung übernehmen. Das finde ich einfach grotesk.»

Trotz erblicher Erkrankung: Aufgeben ist keine Option 

Was gibt Anna Kraft? «Hoffnung», sagt Anna. «Sie ist das Einzige, was wir noch haben. Die Hoffnung war am Anfang sehr gross, weil es bei sehr vielen seltenen Krankheiten doch einige Studien gibt.» Sechs Jahre nach der Diagnosestellung ist Anna allerdings ernüchtert. Drei der vielversprechenden Studien wurden nicht zugelassen und die anderen Studien kämen nicht vorwärts. «Dadurch, dass eine richtige Heilung lediglich durch eine genetische Veränderung möglich ist, ist die Hoffnung auf eine Heilung eher klein.» Positive Ergebnisse bei Gentests empfinde sie bei bestimmten Krankheiten nur insofern als positiv, als es Eltern beispielsweise etwas mehr Zeit gäbe, für die Zeit der Erkrankung vorzusorgen.

* Um Anna und ihre Familie zu schützen, haben wir für sie ein Pseudonym verwendet.

Seltene Krankheiten in Zahlen

Heute sind weltweit 6000 bis 8000 seltene Krankheiten bekannt. Eine Leiden gilt dann als selten, wenn fünf oder weniger Personen auf 10 000 Einwohnerinnen und Einwohner betroffen sind. Man geht davon aus, dass 5 bis 8 Prozent der Schweizer Bevölkerung von einer seltenen Krankheit betroffen sind, also zwischen 500 000 und 600 000. Davon sind 50 Prozent Kinder und Jugendliche. Weil diese Erkrankungen so selten vorkommen, fällt es der Medizin oft schwer, sie rechtzeitig zu entdecken und angemessen zu behandeln. Dies bringt grosse Herausforderungen mit sich: Eltern, die am Rande ihrer Kräfte sind, Geschwister, die zu kurz kommen, finanzielle Sorgen, Kämpfe mit den Versicherungen und oft auch soziale Isolation.

Anlaufstellen:

Verein für seltene Krankheiten: www.kmsk.ch

Nationale Koordination Seltene Krankheiten: www.kosekschweiz.ch

Akademie der Wissenschaften: www.samw.ch

Drei Fragen an Dr. Bettina Henzi von der Neuropädiatrie am Universitätskinderspital beider Basel

 

Frau Dr. Henzi, welche genetischen Untersuchungen sind aus ärztlicher Sicht sinnvoll? 

In Bezug auf die pränatale Diagnostik, sollten die regulären Schwangerschaftsuntersuchungen auf jeden Fall durchgeführt werden. Des Weiteren machen genetische Abklärungen Sinn bei bestehenden Risikofaktoren. In diesen Fällen muss zusammen mit den Eltern besprochen werden, was gemacht werden soll und was für Konsequenzen daraus erwachsen. Bei genetischen Untersuchungen nach der Geburt aufgrund einer familiären Vorbelastung ist die Diagnostik bei einem Kind, welches keine Symptome hat, nicht erlaubt, ausser es gäbe daraus eine unmittelbare therapeutische Konsequenz. Es soll wiederum eine genetische Beratung durch eine Fachärztin, einen Facharzt erfolgen, bei der genau erörtert wird, was für Nutzen und Risiken aus einer Untersuchung entstehen. Bei bekannten Erbkrankheiten mit etablierten Therapien und Vorsorgestrukturen kann eine genetische Testung für die bekannte Erkrankung sinnvoll sein.

Unser aller Erbgut unterliegt einer gewissen Neumutationsrate. Deshalb wissen Betroffene von seltenen Krankheiten oft gar nicht, dass sie Träger einer monogenen Erkrankung sind. Ist dieses Nichtwissen Fluch oder Segen? 

Nicht alle Erbkrankheiten werden in gleicher Weise vererbt und nicht jede Veränderung im Erbgut verursacht eine Krankheit. Von Fluch oder Segen kann nicht allgemein gesprochen werden, dies ist individuell sehr unterschiedlich. Für gewisse genetische Erkrankungen gibt es mittlerweile gezielte Therapien, welche am wirksamsten sind, wenn sie früh eingesetzt werden. Hier sind das frühe Erkennen der Erkrankung sowie die anschliessende genetische Beratung sehr wichtig. 

Die Diagnose ist für Betroffene wie auch deren Eltern lebenseinschneidend. Welche Form der Unterstützung hilft diesen Familien?

Bei Diagnosestellung ist aus unserer Sicht eine offene und ehrliche Kommunikation sehr wichtig. Gleich zu Beginn und auch im Verlauf muss deutlich klargemacht werden, dass die Eltern oder einzelne Elternteile keineswegs schuldig sind. Für die genetische Beratung kann ein interdisziplinäres Team an den Kliniken den Familien zur Seite stehen. Ebenfalls hilfreich erscheint uns zudem die Vernetzung der Patientenfamilien unter sich. Auch wenn die einzelnen seltenen Erkrankungen eben selten sind, so sind sie zusammengenommen doch häufiger, als man vielleicht denkt. Der Austausch untereinander kann Ressourcen aufzeigen, weitere Informationen zur spezifischen Erbrankheit zugänglich machen und Hoffnung geben. Zugleich ist das Ziel des Behandlungsteams, die Familien optimal zu versorgen und auf individuelle Bedürfnisse einzugehen.

Zur Person Dr. med. Bettina Henzi arbeitet in der Neuropädiatrie des UKBB, dem universitären Kompetenzzentrum für Kinder und Jugendliche in Basel.

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