Dossier: Sexualität

Gendermedizin: Nicht alle sind gleich!

Eine Frau ist kein kleiner Mann. Eigentlich klar. Trotzdem wurde dies in der Medizin lange ignoriert. Mit teilweise fatalen Folgen – für Frau und Mann. Über die Gleichbehandlung der Geschlechter, die für einmal nicht erwünscht ist.

Autorinnen: Katharina Rilling, Jessica Braun; Foto: iStock

45 Jahre alt, 75 Kilo schwer, weiss und männlich – einige Ärztinnen und Ärzte behandeln einzig und allein diesen Typus Mensch. So könnte man meinen: «Noch während meiner Ausbildung hat der Mann als Richtwert gegolten», sagt Ute Seeland, Fachärztin für Innere Medizin und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin.

Dass Frauen anders therapiert werden müssen als Männer, sei immer noch nicht in allen Köpfen angekommen. Und das, obwohl man heute nach rund 30 Jahren Genderforschung weiss, dass das Geschlecht einen enormen Einfluss auf Krankheiten und Therapien hat.

«Noch während meiner Ausbildung hat der Mann als Richtwert gegolten.»
Ute Seeland, Fachärztin für Innere Medizin

Was ist Gendermedizin?

Doch zurück zum Anfang: Gendermedizin ist ein Fachgebiet, das sich mit dem Einfluss des Geschlechts auf Gesundheit und Krankheit befasst. Es geht zum einen um das biologische Geschlecht, also zum Beispiel um den Einfluss der Gene und Hormone. Das betrifft die Grundlagenforschung und Prävention, die Diagnostik, wie sich Erkrankungen zeigen und wie sie therapiert werden müssen. 

Die Gendermedizin fragt aber auch nach dem sozialen Geschlecht, also danach, wie sich eine Person wahrnimmt, wie sie von anderen gesehen wird und wie ihr Umfeld sie beeinflusst. «Lebenslauf, Bildung oder soziale Stellung können Entstehung und Verlauf einer Krankheit mitentscheiden», sagt Seeland. Ein Beispiel: Zu Beginn der Pandemie infizierten sich mehr Frauen als Männer mit dem Virus. Mögliche Ursachen: Frauen arbeiten häufiger in Pflegeberufen oder im Einzelhandel, Homeoffice war keine Option. Zudem nutzen sie auch öfter öffentliche Verkehrsmittel. Dieses Hintergrundwissen ist wichtig, wenn es um die Interpretation der Zahlen und die Prävention geht.

Auch beim Thema Übergewicht zeigen sich biologische und soziokulturelle Faktoren gut. In westlichen Gesellschaften sind Frauen schlanker, was wohl auch mit dem Schönheitsideal zusammenhängt. In Gesellschaften, in denen Fettleibigkeit mit Wohlstand in Verbindung gebracht wird, ist es genau umgekehrt. Biologisch gesehen greifen Frauen lieber zu Süssem und ihr Progesteron fördert Heisshungerattacken. Bei den Männern hemmt Testosteron den Hunger eher. All diese Faktoren müssen bei der Prävention und Behandlung miteinbezogen werden.

«Lebenslauf, Bildung oder soziale Stellung können Entstehung und Verlauf einer Krankheit mitentscheiden.»
Ute Seeland, Fachärztin für innere Medizin

Gendermedizin – warum so spät?

Dass Frauen und Männer trotz ihrer Unterschiede aber oft auf gleiche Art diagnostiziert und behandelt werden, hat mehrere Gründe: Zum einen ist die Medizin traditionell männerdominiert. Die leitenden Posten in Praxen, Spitälern, Unternehmen und Universitäten waren (und sind häufig immer noch) männlich besetzt. Informationen in Lehrbüchern, Leitlinien und Therapieansätze müssen daher geschlechtsspezifisch neu überdacht werden.

Das Problem ist nur: Differenzierte Daten sind rar. Labore wählen überwiegend männliche Mäuse und Ratten für die Grundlagenforschung aus. Und Frauen wurden in (Medikamenten-)Studien bislang viel zu wenig berücksichtigt. Das liegt unter anderem daran, dass sich der Hormonhaushalt im Leben einer Frau – und sogar innerhalb eines Monats – stark verändert. Dies und der Fakt, dass viele Frauen hormonelle Verhütungsmittel einnehmen, machen die Ergebnisse uneinheitlich.

Auch andere Gründe spielen mit hinein: So häuften sich in den 1950er- und 1960er-Jahren zum Beispiel Fehlgeburten, nachdem schwangere Frauen ein als sicher geltendes Beruhigungsmittel eingenommen hatten. Das hatte zur Folge, dass erst einmal kaum noch Probandinnen eingesetzt wurden, die Frau wurde ausgeklammert. Und auch wenn man heute für das Thema sensibilisiert ist und sich einiges getan hat: Die Mehrheit der Teilnehmenden an Studien ist nach wie vor männlich.

Frau und Mann funktionieren verschieden

Natürlich ist kein Mensch gleich wie der andere, und auch zwischen Männern gibt es grosse Unterschiede in Sachen Gewicht oder Körperbau. Trotzdem ähneln sich Männer biologisch, genauso wie Frauen. Jungen und Männer sind meist grösser, schwerer und haben mehr Muskelmasse bei weniger Fett. Bei den Frauen arbeitet der Darm langsamer. Das ist wichtig, wenn es darum geht, wie schnell ein Medikament wirkt und wie hoch die Dosierung sein darf. Noch 2013 musste die US-Arzneimittelbehörde mehrere Schlafmittelhersteller dazu auffordern, ihre Dosierungsempfehlung für Frauen um die Hälfte zu senken: Morgendliche Autounfälle hatten sich gehäuft.

Neuere Studien zeigen, dass selbst auf Zellebene nicht alle Prozesse geschlechtsneutral ablaufen. So leiteten zum Beispiel die Rezeptoren weiblicher Zellen im Tierversuch Schmerzsignale schneller weiter. Und wenn sich Medikamente gezielt an Zellrezeptoren, also die Empfängermoleküle der Zellen, richten, muss doch berücksichtigt werden, dass Männer und Frauen unterschiedlich viele dieser Rezeptoren haben. Sonst droht im schlimmsten Fall eben eine Überdosis bei Frauen – mit entsprechenden Folgewirkungen.

«Wir müssen bei den Frauen einfach aufholen»
Ute Seeland

Darum macht Gendermedizin Sinn

Wie der «Tages-Anzeiger» in seiner Reihe über Gendermedizin schreibt, leben Frauen in der Schweiz im Schnitt vier Jahre länger als Männer. Dafür leiden Frauen aber häufiger an körperlichen Beschwerden. Frauen sind häufiger deprimiert, Männer gehen seltener zum Arzt. Männer erkranken häufiger an Krebs, Frauen öfter an Autoimmunerkrankungen. Die Liste ist lang. Im Folgenden ein kleiner Einblick in die Unterschiede zwischen Mann und Frau: 

Herz

Herzinfarkte zählen zu den häufigsten Todesursachen. Stechende Brustschmerzen, die bis in den linken Arm ausstrahlen – spätestens dann heisst es: Sofort ins Spital! Je schneller ein Herzinfarkt behandelt wird, desto grösser sind die Überlebenschancen.

Die Symptome eines weiblichen Infarkts kennen aber nur wenige: Neben dem Engegefühl in der Brust sind etwa Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen typisch. Erst in den 1990er-Jahren beschrieb die US-Kardiologin Bernadine Healy das «Yentl-Syndrom». Sie zeigte, dass sich die Verläufe von Herzinfarkten von Frauen und Männern stark unterscheiden. In der Forschung waren bislang aber nur männliche Herzinfarkte Thema. Bei vielen Frauen hat das bis heute fatale Folgen: Sie kommen im Schnitt eine Stunde später in die Notaufnahme, obwohl jede Minute zählt.

Es erstaunt daher nicht, dass, obwohl Männer weit öfter einen Herzinfarkt erleiden, Frauen häufiger daran sterben. Frauen haben laut einer Studie übrigens bessere Chancen, wenn sie in der Notaufnahme von Frauen behandelt werden. Sie schätzen Symptome und Risiken oft genauer ein als ihre Kollegen. In Medizin und Bevölkerung braucht es also eine stärkere Sensibilisierung für die unterschiedlichen Symptome – schlicht, um Leben zu retten.

Infektionen

Eine Infektion verläuft nicht unbedingt immer gleich: Während der Pandemie zeigte sich, dass Covid-19 für Männer häufiger tödlich endet. Frauen hingegen sind öfter von den noch mehrere Wochen nach der Erkrankung anhaltenden Long-Covid-Symptomen betroffen. «Die Pandemie hat einmal mehr gezeigt, dass Medizin selten genderneutral ist», so Fachärztin Ute Seeland.

Alzheimer

Frauen werden älter als Männer und erkranken daher auch häufiger an Alzheimer. Zudem spielen Hormone wahrscheinlich eine grosse Rolle: Östrogen hat einen schützenden Einfluss auf das weibliche Gehirn. Nach der Menopause sinkt der Östrogenspiegel allerdings stark ab. Vielleicht erkranken auch darum so viele Frauen an der Gedächtnisstörung.

Depression

Wie von Alzheimer sind Frauen auch fast doppelt so häufig von Depressionen betroffen wie Männer. Bei Männern bleiben diese aber öfter unentdeckt, weil ihre Symptome – darunter Aggressionen oder Schmerzen – zum Teil als «untypisch» gelten. Das spiegelt sich in den Suizidraten wider: Männer begehen infolge einer Depression öfter Selbstmord. «Solche Beispiele zeigen, dass geschlechtersensible Medizin nicht nur Frauenmedizin ist», sagt Seeland.

Parkinson

Zwei Drittel der Parkinsonpatienten sind männlich. Sie bekommen die Krankheit nicht nur häufiger, sondern auch früher und heftiger. Es fällt aber auf, dass Frauen trotzdem schneller an Parkinson sterben. Ein Hinweis darauf, dass die Behandlung von Frauen angepasst werden sollte.

Autoimmunkrankheiten

Frauen sind stärker von Krankheiten wie Multipler Sklerose (MS) sowie Lupus & Co. betroffen – vor allem nach der Pubertät und Menopause. Grund könnte das stärkere Immunsystem von Frauen sein, aber auch Geschlechtshormone wie Östrogen und Progesteron, die auf das Immunsystem einwirken, spielen eine Rolle. Bei Frauen wird MS übrigens öfter falsch diagnostiziert, wodurch wichtige Behandlungszeit verloren geht. 

ADHS

Zu Beginn wurde die Verhaltensstörung typischerweise Buben zugeschrieben. Seltener wurden – und werden noch immer – Mädchen mit ADHS oder ADS diagnostiziert. Dies hauptsächlich deshalb, weil sich die Symptome oft anders äussern als bei Jungen. Mädchen sind eher verträumt und still, zeigen sich weniger impulsiv und hyperaktiv und ecken entsprechend weniger an.

Weshalb es die Gendermedizin braucht – die Zukunft

Viele Erkrankungen unterscheiden sich bei Mann und Frau also in der Art der Manifestation, im Verlauf und in der Therapie. Gendermedizin ist daher nötig, um alle Menschen bestmöglich behandeln zu können. Weil sich viele Erkenntnisse der Gendermedizin aber auch heute noch nicht in den Behandlungsleitlinien der Fachgesellschaften niederschlagen, soll das 2024 lancierte Nationale Forschungsprogramm «Gendermedizin und Gesundheit» (NFP 83) helfen, diese Lücke zu schliessen.

«Die Gendermedizin kümmert sich um beide Geschlechter, aber wir müssen bei den Frauen aufholen», ordnet Expertin Seeland ein. Sie setzt viel auf die medizinische Ausbildung: auf Lehrbücher, die sich mit der Problematik auseinandersetzen. Auf Fakultäten, die ihre Lehrpläne entsprechend überarbeiten. Und auf den medizinischen Nachwuchs, der sensibler ist für die Unterschiede. Immerhin: Mittlerweile finden die Risiken dieser einseitigen Sichtweise und die Chancen der differenzierten Gendermedizin immer mehr Beachtung. Es erscheinen jährlich bis zu 9000 Fachartikel zum Thema.

Über die Expertin

Ute Seeland ist Fachärztin für Innere Medizin und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin. Für ihre Forschungsarbeit über Geschlechterunterschiede bei der arteriellen Pulswellenreflexion für die Diagnostik kardiovaskulärer Erkrankungen erhielt die Fachärztin den Wissenschaftspreis des Deutschen Ärztinnenbundes.

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