Gendermedizin: Wir sind nicht alle gleich
Das Geschlecht beeinflusst, wie Krankheit, Diagnose und Therapie verlaufen. Die medizinische Forschung und Lehre ging jedoch lange von einem männlichen Durchschnittspatienten aus. Das ändert sich nun – und verbessert die Versorgung für Frauen, Männer und diverse Menschen.
Ein Knochenbruch ist nicht einfach ein Knochenbruch. Ein Mann im fortgeschrittenen Alter, der damit ins Krankenhaus kommt, ist deshalb manchmal besser dran, wenn seine Behandelnden ausserhalb der Geschlechterbilder denken: Osteoporose tritt bei Männern seltener auf als bei Frauen – diese sind fünfmal häufiger davon betroffen. Das verringert die Chance, dass die Krankheit bei männlichen Patienten als solche erkannt wird. Es droht eine Behinderung, schlimmstenfalls der vorzeitige Tod.
Eine Infektion ist auch nicht nur einfach eine Infektion. Während der Pandemie zeigte sich, dass Covid-19 für Männer häufiger tödlich verläuft. Frauen hingegen sind öfter von den noch mehrere Wochen nach der Erkrankung anhaltenden Long-Covid-Symptomen betroffen. «Die Pandemie hat einmal mehr gezeigt, dass Medizin selten genderneutral sein kann», sagt Ute Seeland, Fachärztin für innere Medizin und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Geschlechtsspezifische Medizin.
Mann, Frau oder intergeschlechtlich?
Die Antwort darauf ist mitverantwortlich dafür, wie hoch das Risiko eines Menschen ist, eine bestimmte Krankheit zu entwickeln. Sie beeinflusst, welche Symptome sich bei ihm zeigen und welche Therapien die besten Heilungsaussichten versprechen. In der medizinischen Forschung und Lehre blieb dies jedoch lange unerkannt. Denn Medizin ist männerdominiert: Labore wählen überwiegend männliche Mäuse und Ratten für die Grundlagenforschung aus. Medikamentenstudien haben überwiegend Männer als Probanden. Und die leitenden Posten in Unternehmen und Universitäten waren traditionell männlich besetzt. Noch während ihrer Ausbildung habe nur ein Typ Mensch als Richtwert gegolten, sagt Ute Seeland. Der war 45 Jahre alt, 75 Kilo schwer, weiss und männlich.
Eine Frau ist kein kleiner Mann
Männer haben einen höheren Wasseranteil im Körper, Frauen dafür mehr Körperfett und ihr Darm arbeitet auch langsamer. Diese und andere Faktoren beeinflussen, wie schnell beispielsweise ein Medikament wirkt und wie hoch die Dosierung sein darf. Noch 2013 musste die US-Arzneimittelbehörde aber mehrere Schlafmittelhersteller dazu auffordern, ihre Dosierungsempfehlung für Frauen um die Hälfte zu senken: Berichte über morgendliche Autounfälle hatten sich gehäuft.
Mittlerweile erscheinen jährlich bis zu 9000 Fachartikel, die deutlich machen, dass die Unterschiede bis auf Zellebene reichen. «Die Geschlechtschromosomen führen unter anderem zur Entwicklung von Geschlechtsorganen. Diese produzieren Hormone, die wiederum Vorgänge im Körper steuern», so Ute Seeland. Neuere Studien zeigen, dass selbst auf Zellebene nicht alle Prozesse geschlechtsneutral ablaufen. So leiteten zum Beispiel die Rezeptoren weiblicher Zellen im Tierversuch Schmerzsignale schneller weiter.
Eine geschlechtersensible Medizin zieht diese biologischen Aspekte schon in der Grundlagenforschung in Betracht. Sie fragt aber noch weiter: nach dem sozialen Geschlecht, also danach, wie eine Person sich selbst wahrnimmt, wie sie von anderen gesehen wird und wie ihr Umfeld sie beeinflusst. «Lebenslauf, Bildung oder soziale Stellung können Entstehung und Verlauf einer Krankheit mitentscheiden», sagt Ute Seeland. Covid-19 ist dafür ein gutes Beispiel: Zu Beginn der Pandemie infizierten sich mehr Frauen mit dem Virus. Mögliche Ursachen: Frauen arbeiten häufiger in Pflegeberufen oder im Einzelhandel. Homeoffice ist da keine Option. Sie nutzen auch öfter öffentliche Verkehrsmittel.
Der Contergan-Skandal
Dass Frauen in Medikamentenstudien bislang zu wenig berücksichtigt wurden, hat mehrere Gründe: So verändert sich ihr Hormonhaushalt im Lauf des Lebens mehrmals – in der Pubertät, während Schwangerschaften und in den Wechseljahren. Auch der Menstruationszyklus oder Verhütungsmittel können Ergebnisse uneinheitlicher machen.
Vor allem wollten Pharmahersteller aber einen zweiten Contergan-Skandal ausschliessen: In den 1950er- und 1960er-Jahren häuften sich Fehlgeburten, nachdem schwangere Frauen ein als sicher geltendes Beruhigungsmittel eingenommen hatten. Das hatte zur Folge, dass kaum noch Probandinnen eingesetzt wurden. Anfang der 1990er-Jahre führte dies zu einem Dilemma: Für HIV-infizierte Frauen war die Teilnahme an klinischen Studien die einzige Möglichkeit, an neue und effektivere Arzneimittel zu kommen. Seitdem ist ihr Anteil bei Studien höher. Die Mehrheit der Teilnehmenden ist aber nach wie vor männlich.
Geschlechtersensible Medizin ist nicht nur Frauenmedizin
Solche Einflüsse finden im medizinischen Alltag meist wenig Beachtung. «Sie sind methodisch nicht einfach zu erfassen und zu analysieren, da unterschiedliche Bedingungen zusammentreffen und sich gegenseitig beeinflussen. Hier ist noch viel Forschungsarbeit nötig», sagt Ute Seeland. Denn das Einheitsdenken lässt zu viele aussen vor. So bleiben Depressionen bei Männern öfter unentdeckt, weil ihre Symptome – darunter Aggressionen oder Schmerzen – zum Teil als «untypisch» gelten. Und das spiegelt sich in den Suizidraten wider.
«Solche Beispiele zeigen, dass geschlechtersensible Medizin nicht nur Frauenmedizin ist», sagt Ute Seeland. «Wir kümmern uns um beide Geschlechter, aber wir müssen bei den Frauen einfach aufholen.» Sie setzt auf die medizinische Ausbildung: auf Lehrbücher, die sich mit der Problematik auseinandersetzen. Auf Fakultäten, die ihre Lehrpläne entsprechend überarbeiten. Und auf den medizinischen Nachwuchs, der sensibler ist für die Unterschiede.
Wie vielschichtig diese sind, zeigt eine Studie des Universitätsklinikums Köln zum Verlauf von Diabetes. Auch hier spielt das Geschlecht mit hinein. Allerdings nicht das von Patient oder Patientin, sondern das der Behandelnden. Aufmerksames Zuhören und präzises Erklären trugen laut der Untersuchung stark dazu bei, wie erfolgreich die Therapie verlief – und da punkteten durchweg die Ärztinnen.
Yentl-Syndrom
Frauen mit Herzerkrankungen wären besser dran, wenn sie Männer wären. So argumentierte die Kardiologin Bernadine Healy, die erste Direktorin des National Institute of Health in den USA, 1991 in einem Artikel. Herzerkrankungen galten damals als männliche Leiden, blieben bei Frauen deshalb häufiger unerkannt und unbehandelt.
Bernadine Healy prägte dafür den Begriff Yentl-Syndrom – nach der Kurzgeschichte von Isaac Singer, in der ein Mädchen sich als Mann ausgibt, um studieren zu können. «Wir hoffen, dass die mutige und charmante Heldin Yentl überlebt», schrieb Healy, «aber dass ihr Syndrom mit der Zeit nur noch eine kuriose Geschichte sein wird.» Über 30 Jahre später ist die Gefahr, an einem Herzinfarkt zu sterben, für Frauen jedoch immer noch höher als für Männer.