Dossier: Sexualität

Libido: Lust ist lernbar

Die Libido ist unser Appetit auf Sex. Hormone, die Psyche, aber auch die Paardynamik beeinflussen sie. Doch ausgeliefert sind wir ihr nicht: Wir können Lust lernen.

Autorin: Anna Miller; Foto: iStock

Wir würden doch so gerne noch zusammen ins Bett steigen, Lust aufeinander haben, unsere Körper spüren, doch da sind die vielen E-Mails … Der Abwasch, die Einkaufsliste, der Anruf, die Termine, der Streit von gestern Abend … Umfragen zeigen seit Jahren nach unten, wenn es darum geht, wie viel Sex Menschen in westlichen Ländern haben und vor allem wie viel Lust sie darauf haben. Dabei gehört guter Sex zu einem erfüllten Leben: Fühlen wir uns sexuell befriedigt und verbunden, sind wir gesünder, tanken Energie und bauen Stresshormone ab. Was aber beeinflusst die Libido? Und was können wir aktiv tun, um sie wieder zu steigern?

Libido: Was versteht man darunter?

«Die Libido ist nichts anderes als die Appetenz eines Menschen, das Begehren also, der Appetit auf sexuelle Befriedigung», sagt Isabelle Christen, Sexualtherapeutin und Psychosoziale Beraterin aus Zürich. Die Libido ist grundsätzlich bei jedem Menschen vorhanden. Wie ausgeprägt, ist aber eine andere Geschichte. Und wie sie ausgelebt wird auch. «Vereinfacht gesagt, ist sexuelle Erregung nichts weiter als eine Mehrdurchblutung der Sexualorgane», sagt Christen. «Aber Lust und Leidenschaft und eine befriedigende Sexualität sind weit mehr als das.»

«Jeder Mensch hat eine individuelle sexuelle Lernerfahrung, die mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet»
Isabelle Christen, Sexualtherapeutin und Psychosoziale Beraterin

Störung der Libido: Was beeinflusst den Sexualtrieb bei Mann und Frau?

Die Libido wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst. «Das eine sind die Hormone. Das männliche Hormon Testosteron ist dabei ein Antreiber: Mehr davon erzeugt tatsächlich auch ein grösseres Verlangen und steigert die Triebstärke – Männer haben rund zehnmal mehr Testosteron in ihrem Körper als Frauen», sagt die Sexualtherapeutin. Das weibliche Sexualhormon Östrogen wirkt zwar auch sexuell stimulierend, Mann und Frau sind aber rein hormonell betrachtet unterschiedlich gelagert. Der Mann ist hormonell eher dazu veranlagt, sexuell aktiver zu sein als die Frau.

Bei einer lustvollen und erfüllenden Sexualität spielen jedoch viele weitere Faktoren mit. Beziehungskonstellationen, emotionale und Bindungsfaktoren sowie vor allem die sexuelle Lerngeschichte. Diese hat auf beide Geschlechter einen grossen Einfluss. «Jeder Mensch hat eine individuelle sexuelle Lernerfahrung, die mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet», sagt Christen. Wie bin ich erzogen worden? War Sexualität in meinem Elternhaus tabuisiert? Wie wurde darüber gesprochen? Welches Rollenbild habe ich? Welche Erfahrungen habe ich persönlich mit Sexualität bisher gemacht? Wie habe ich Sexualität gelebt, was erregt mich und warum?

Die rein körperliche, sexuelle Erregung kann noch so gross sein – wenn jemand schlechte Erfahrungen im sexuellen Paarkontakt gemacht hat, Leistungsdruck mit hineinspielt oder die Person nicht so recht weiss, was sie körperlich zur Luststeigerung tun könnte, kann dies dazu führen, dass Sexualität als wenig befriedigend erlebt wird. «Das System macht da eine Kosten-Nutzen-Analyse», sagt Sexualtherapeutin Christen. «Wenn der Akt selbst beispielsweise als befriedigend erlebt wird, der Weg dahin aber als mühsam oder problembehaftet, wird das Lust- und somit auch das Appetenzzentrum im Hirn weniger stimuliert.» Und die Libido ist das nächste Mal, wenn die Frage im Raum steht, ob man Sex haben will, nicht so befeuert, wie man dies vielleicht gerne hätte.

Libidoverlust durch die Pille: Stimmt das wirklich?

Ein möglicher Faktor für ausbleibende Lust bei der Frau ist die Antibabypille. Seit Jahrzehnten ist sie mit das sicherste Verhütungsmittel, gab der Frau in den Siebzigern neue Freiheiten. Und doch regt sich in den letzten Jahren Widerstand. Nicht nur weil Frauen von Persönlichkeitsveränderungen, schlechter Laune oder einem trockenen Intimbereich berichten, sondern eben auch über weniger Lust auf Sex. Tatsächlich ist eine verminderte Libido eine bekannte mögliche Nebenwirkung der hormonellen Verhütung, das belegen verschiedenste Studien.

Doch wie bei vielen anderen Medikamenten gilt auch hier die Regel: Nebenwirkungen sind nicht für alle gleich – Frauen reagieren unterschiedlich auf Hormone. Die einen spüren einen riesigen Unterschied und verlieren die Lust, andere merken kaum was oder stellen keinerlei Veränderungen fest. Unverträglichkeiten oder negative Auswirkungen bei Einnahme zeigen sich in der Regel in den ersten paar Monaten. Dann kann man mit der Frauenärztin oder dem Frauenarzt Alternativen besprechen – auch ein Wechsel des Präparats könnte Sinn machen, wenn man weiterhin mit der Pille verhüten möchte. 

«Generell gilt in meiner Praxis: Empfinde ich etwas nicht als Problem, gibt es auch keines»
Isabelle Christen, Sexualtherapeutin und Psychosoziale Beraterin

Hohe oder niedrige Libido: Wie viel sexuelle Lust ist normal?

Viele Menschen geraten unter extremen Leistungsdruck und Stress. Die Gesellschaft wird übersexualisiert dargestellt, Sex winkt an jeder digitalen und analogen Ecke – und Bilder von perfekten erotisierten Menschen und ihrer Wahnsinnslust scheinen allgegenwärtig. In Tat und Wahrheit gibt es aber keine Norm – die einen möchten täglich Sex, die anderen alle paar Monate mal. Die sexuelle Lust hängt auch von der Tagesform, den Lebensumständen, dem Hormonhaushalt, der Verhütung sowie der Beziehung zu sich selbst und zum Gegenüber ab. Und die Frage nach der Libido ist vor allem auch eine nach dem Leidensdruck. «Generell gilt in meiner Praxis: Empfinde ich etwas nicht als Problem, gibt es auch keines», sagt Christen. Sprich: Wenn jemand nie oder ständig will und es keinerlei Reibungen gibt, gibt es auch nichts zu therapieren.

In vielen Fällen kommen Menschen denn auch erst dann in die Praxis der Sexualtherapeutin, wenn im Bett nichts mehr läuft – und das den Partner oder die Partnerin belastet. «Interessanterweise kommt der grössere Teil Frauen nicht primär wegen ihres eigenen Lustempfindens, sondern weil der Sex in der Beziehung zu kurz kommt und sie fürchten, von ihrem Partner verlassen zu werden», sagt die Expertin. 

«Eine gute Grundkenntnis des eigenen Geschlechts ist wichtig für das Lustempfinden»
Isabelle Christen, Sexualtherapeutin und Psychosoziale Beraterin

Frauen wie Männer gehen oft erst in Beratung, wenn eine Trennung droht

Für Frauen ist Sex oft eher Beziehungskomponente und Bindung – die rein körperliche Lust ist zweitrangig. Das hat wiederum mit der sexuellen Lerngeschichte des Individuums zu tun – wobei diese auch gesellschaftlich geprägt ist. «Männer kommen in der Regel viel früher mit ihrem eigenen Geschlechtsteil in Berührung, lernen es kennen, haben klare, visuelle Reize, die Erregung auslösen, werden eher darin bestärkt, sich sexuell kennenzulernen und auch sexuell aktiv zu werden», sagt Christen. Bei Mädchen seien das Kennenlernen und Ausleben der Libido eher schambehaftet und indirekt. Auch sei der sexuelle Akt kulturell sehr auf den Mann fixiert, auf sein Eindringen, seine Aktivität. «Dabei kann die Frau genauso aktiv sein, das Aufnehmen des Penis als aktive Handlung wahrnehmen, die sie initiiert.» Das Gleiche gilt natürlich auch für gleichgeschlechtliche Partnerschaften.

Wer seinen Körper noch wenig kennt, dem fällt es schwerer, die Libido aktiv zu steigern. «Eine gute Grundkenntnis des eigenen Geschlechts ist wichtig für das Lustempfinden», sagt die Sexualtherapeutin. Das gebe Sicherheit und man habe mehr Möglichkeiten, für die eigene Lust einzustehen. Auch sei wichtig, dass man allein oder gemeinsam in eine Grundentspannung finde. «Stress – sowohl im Alltag als auch in der Paarbeziehung oder im Moment der sexuellen Interaktion selbst – ist Gift für die Lust.» Nicht nur mental, sondern auch körperlich: Denn Stress erhöht die Grundanspannung der Muskulatur im Körper, was zu geringerer Durchblutung führt – und dies wiederum zu weniger sexueller Erregung.Wenn die Lust schwindet, kann das auch körperliche Ursachen haben, zum Beispiel hormonelle Störungen wie Androgen- oder auch Östrogenmangel, die den Aufbau sexueller Erregung behindern und zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr führen können. Medikamente wie Antidepressiva können eine Rolle spielen, aber auch Stress- und Erschöpfungszustände, Alkoholabhängigkeit und Schilddrüsenerkrankungen.

Libido steigern: So lässt sich sexuelle Lust positiv beeinflussen

Können medizinische Ursachen ausgeschlossen werden, gibt es eine wirklich gute Nachricht: Sexuelle Lust lässt sich beeinflussen. Die Lust auf Sex lässt sich steigern, indem man seine eigene sexuelle Lerngeschichte positiv steuert. Es gibt ein paar magische Zutaten, die das sexuelles Begehren steigern helfen: sein eigenes Genital gut kennen, wissen, wie man sexuelle Erregung auslöst und steigert, aufrichtig und offen auf Augenhöhe mit dem Gegenüber kommunizieren und die körperliche Wahrnehmung der Lust mit angenehmen Gefühlen verbinden – Bewegung ist dabei zentral. «Es sind viele schöne, neue Momente möglich, wenn sich ein Mensch auf seine eigene Lustreise begibt, diese Reise kann aber auch erst einmal Frust auslösen», sagt Christen. Wichtig sei deshalb: sich selbst und seine Bedürfnisse kennenlernen zu dürfen und Raum zu lassen für das eigene und das Begehren des Gegenübers. «Wir schreiben unsere sexuelle Lerngeschichte ein Leben lang fort.» Es gehe am Ende darum, sich individuell auf die Reise zu einer genussvollen Sexualität zu machen, meint Christen abschliessend. Denn: «Wenn es der Sex ‹wert› ist, haben wir auch ein Verlangen danach.»

Isabelle Christen ist Sexualtherapeutin und Psychosoziale Beraterin am ZiSMed, dem Zentrum für interdisziplinäre Sexologie und Medizin in Zürich.

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