Dossier: Starke Psyche

Depression: Männer leiden anders

Kerle weinen nicht? Depressionen bleiben bei ihnen jedenfalls häufig unerkannt, weil sich ihr psychisches Leiden hinter Aggression, Alkoholabsturz oder Arbeitswut versteckt. Woran man eine Depression trotzdem erkennt.

Text: Stefan Schweiger; Foto: iStock

Kommt Ihnen folgendes Szenario bekannt vor? Auf die besorgte Bemerkung «Mein lieber Schatz/Freund/Kollege, ich mache mir Sorgen um dich. Ich merke, dass es dir zurzeit nicht gut geht …» folgt meist eine ausweichende Antwort des Angesprochenen. Bei den unten stehenden sechs Beschwichtigungsversuchen sollten Männer selbst, aber auch ihr Umfeld hellhörig werden.

«Ach, lass mal. Ein gepflegter Herrenabend in der Kneipe, dann renkt sich das schon wieder ein.»

Es sei ein typisch männliches Muster, Probleme wegtrinken, wegarbeiten, wegsporteln oder weggamen zu wollen, erklärt Psychiater Dr. Andreas Akert. Hauptsache, man funktioniere irgendwie weiter und lasse sich nichts anmerken. Eine wenig zielführende Bewältigungsstrategie, denn irgendwann droht der Zusammenbruch. Dabei ist eine psychische Erkrankung kein persönliches Versagen, sondern eben eine Erkrankung, die gut zu behandeln ist. Einsicht vorausgesetzt.

«Ich bin nicht depressiv. Ich bin wütend.»

Genau hier versteckt sich oft das grundlegende Problem: «Depressionen äussern sich bei vielen Männern nicht primär über Symptome wie Niedergeschlagenheit oder Antriebslosigkeit», sagt Psychotherapeut Dr. Andras Walther. «Wenn sie sonst keinen Ausdruck finden, verkehren sich Ängste und das Gefühl von Überwältigung nach aussen gerichtet in Gereiztheit, Aggression, exzessives Arbeiten, allgemein risikoreiches Verhalten oder erhöhten Alkohol- und Drogenkonsum.»

Ein Schutzmechanismus, der zu oft als vermeintlich männliche Verhaltensweise abgestempelt wird, nicht aber als Anzeichen einer Depression: nicht von den Männern selbst, nicht von ihrem Umfeld, nicht von Profis aus Psychotherapie und Psychiatrie. Dabei deutet einiges darauf hin, dass Männer nicht seltener unter Depressionen leiden als Frauen. Zwar erkranken Frauen im Laufe ihres Lebens doppelt so häufig daran – oder werden, anders formuliert, damit diagnostiziert. Männer sterben dagegen dreimal so häufig durch Suizid, dem in sehr vielen Fällen eine Depression vorausgeht.

«Anderen geht es viel schlechter als mir.»

Also dranbleiben, weitermachen, Bedürfnisse und Gefühle zur Seite schieben? Keine gute Strategie, sagt Andreas Akert. Unser Innenleben gleiche einem Stausee: Läuft er zunehmend voll, kann man versuchen, die Staumauern zu verstärken oder in die Höhe zu ziehen. Der Druck auf die Mauern nimmt aber trotzdem zu. Und irgendwann halten sie nicht mehr stand.

«Wenn ich jetzt Schwäche zeige, nimmt ganz schnell jemand meinen Platz ein.»

Männer füllen unterschiedliche Rollen aus: als Familienvater, Ehemann, guter Kumpel, verlässlicher und belastbarer Kollege. Dieser Spagat scheint vielen zu gelingen, solange sie ein Gefühl von «Ich habe die Kontrolle» aufrechterhalten können und negative Gefühle eher unterdrücken. 

Sobald diese negativen Gefühle aber stärker werden, wird umso mehr darum gekämpft, die Kontrolle zu behalten. Schwäche zeigen ist unmännlich – zumindest in der althergebrachten Vorstellung der Geschlechterrollen. «Gerade das Gefühl von Kontrollverlust oder überwältigender Trauer kennzeichnet aber die Depression», so Andreas Walther. Je traditioneller das Bild von Männlichkeit im Kopf eines Mannes ausgestaltet sei, umso schwieriger sei es, ihn mit Psychotherapie zu erreichen und damit Erfolge zu erzielen.

«Psychotherapie ist Frauensache.»

Tatsächlich holen sich Männer um etwa 30 Prozent seltener – und ausserdem erst später – psychotherapeutische oder psychiatrische Hilfe als Frauen. Obwohl vermutlich beide Geschlechter gleichermassen stark von Depressionen betroffen sind. Damit möchte sich Andreas Walther nicht zufriedengeben und hat an der Universität Zürich die Grundlagen für eine an Männerbedürfnisse angepasste Psychotherapie entwickelt, orientiert an der kognitiven Verhaltenstherapie: «Je früher eine Depression erkannt wird, umso besser ist sie zu behandeln.»

«Rumheulen hat noch niemandem etwas gebracht.»

Viele Männer hätten nie gelernt, über Gefühle und Schwächen zu sprechen, sagt Andreas Akert. Ihnen könne es helfen, wenn Angehörige oder Freunde sich selbst als Menschen mit Schwächen, Ängsten und unangenehmen Gefühlen zeigten. Hilfreich seien auch die Beispiele von Prominenten, die sich öffentlich zu Depressionen bekennen, sowie Begrifflichkeiten wie «Burn-out», um Männer passend abzuholen: Nur, wer erst einmal brennt, kann schliesslich ausbrennen. Sich dann selbst aktiv und handlungsorientiert darum zu kümmern, wieder gesund zu werden, ist ein Zeichen von Stärke. «Es ist mutig, sich Unterstützung zu holen!», appelliert Andreas Walther an seine Patienten. «Und es ist eine Leistung, die Kontrolle zurückzugewinnen und da wieder herauszukommen.» Dazu gehöre, das Geschlecht und Rollenbilder zu berücksichtigen und zu diskutieren. Nehmen wir gemeinsam den Kampf an! Klingt ordentlich männlich, oder?

Zur Person

Dr. Andreas Walther ist psychologischer Psychotherapeut und Oberassistent in der Abteilung für Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Zürich. Gemeinsam mit Kolleg:innen hat er das Konzept für eine männerspezifische Psychotherapie entwickelt.

Dr. Andreas Akert ist Psychiater und leitender Arzt der stationären Dienste an der Klinik SGM in Langenthal. Im April 2022 eröffnete dort die «Männerinsel», eine Station nur für Männer, die sich in einer psychischen Krise befinden.

Hilfe annehmen ist mutig!

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