Psychische Erkrankungen: Tipps & Hilfe für Angehörige

Familienmitglieder mit einer psychischen Erkrankung zu unterstützen, geht oft an die eigene Substanz. Hier finden Sie Tipps als Angehörige.

Text: Laurina Waltersperger

Bilder: Sanitas

11 Min

03.12.2025

Das Wichtigste auf einen Blick

  • Über zwei Millionen Angehörige in der Schweiz unterstützen Menschen mit psychischen Erkrankungen – sie entlasten das Gesundheitssystem entscheidend.
  • Angehörige sind oft stark belastet und gefährdet, selbst psychisch zu erkranken, insbesondere Kinder und Jugendliche.
  • Zuhören, Empathie und Verlässlichkeit sind zentrale Hilfen für Betroffene – der eigene Schutz und das Ziehen von Grenzen sind ebenso wichtig.
  • Wissen und Unterstützung im Umgang mit psychisch Kranken sind für Angehörige unerlässlich; dafür gibt es spezialisierte Anlaufstellen und Kurse.
  • Angehörige sollten frühzeitig Hilfe suchen und sich Auszeiten nehmen, um ihre eigene Gesundheit zu bewahren.

In der Schweiz unterstützen täglich über zwei Millionen Menschen als Angehörige oder Vertraute jemanden mit einer psychischen Erkrankung.

Ihre Arbeit ist unverzichtbar – in einem Gesundheitssystem, in dem die Wartezeiten für ambulante sowie stationäre Behandlungsplätze in Psychiatrien und Psychotherapien oft Monate dauern.

«Angehörige tragen das System mit», sagt Silvia Andres. Sie pflegte jahrelang ihre an einer Depression erkrankte Mutter. Heute begleitet und unterstützt sie bei der Organisation Stand by You Schweiz Angehörige von Menschen mit einer psychischen Erkrankung.

Wer Angehörige pflegt, belastet die eigene Gesundheit

Die meisten von ihnen befinden sich in einer Situation, in der sie sich um sich und die erkrankte Person kümmern müssen, ihnen Wissen über die Krankheit fehlt und sie die zeit- und energieintensive Unterstützung meist noch mit Beruf und Kindern vereinbaren müssen.

«Solche belastenden Situationen gefährden auch die Gesundheit der Angehörigen», sagt Andres. Studien zeigen eindeutig, dass pflegende Angehörige (Caregivers) von psychisch erkrankten Menschen ein deutlich erhöhtes Risiko haben, selbst an einer psychischen Erkrankung wie Depression oder Angststörungen zu erkranken.

Wenn Kinder ihre Eltern pflegen

Das betrifft auch junge Menschen. Denn viele von ihnen müssen sich um einen psychisch erkrankten Elternteil kümmern. Hier spricht die Forschung von sogenannten «Young Carers». In der Schweiz sind schätzungsweise etwa 8 Prozent der Kinder im Alter von 10 bis 15 Jahren als Young Carers aktiv, das entspricht ungefähr 38 400 Kindern und Jugendlichen. Bei den 16- bis 25-Jährigen liegt die Zahl sogar bei rund 15 Prozent.

Und das geht auch den Kindern und Jugendlichen an die Substanz: Wie Studien zeigen, tragen Kinder, die einen kranken Elternteil betreuen, später ein drei- bis siebenfach höheres Risiko, selbst psychische Probleme zu entwickeln.

Speziell bei Kindern von schizophrenen Eltern kann das Risiko bis zu 40 Prozent betragen. Bei Depression liegt das Risiko für die Kinder ebenfalls deutlich höher, häufig werden bis zu 37 Prozent oder mehr genannt. «Fachleute schätzen, dass die Dunkelziffer noch höher ist», sagt Andres. Umso wichtiger sei es, dass alle Angehörigen mehr Unterstützung erhielten.

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Wie helfe ich jemandem mit einer psychischen Erkrankung?

Die Expertin nennt folgende vier Grundpfeiler für die Unterstützung von psychisch erkrankten Personen:

  • Zuhören

    Der wohl wichtigste Aspekt sei das Zuhören, sagt Andres. Das klingt banal. Ist es aber nicht: Angehörige wollen ihren Liebsten in der psychisch schwierigen Situation helfen. Das führt oft dazu, dass sie reflexartig zu Ratschlägen und Tipps greifen – anstatt einfach zuzuhören.

    «Lernen Sie zuzuhören, ohne Lösungen bringen zu müssen», so die Expertin. Das helfe Angehörigen und Betroffenen am meisten. Dabei sind Interesse und Empathie wichtig. Einfache Fragen wie «Wie geht es dir heute? Wie erlebst du deine Situation?» können dabei helfen. 

  • Da sein

    Des Weiteren sind Nähe und Verlässlichkeit wichtig: «Wenn Betroffene fühlen, dass Sie für sie da sind und sie sich auf Sie verlassen können, schafft das ein sicheres Umfeld, in dem sie besser zur Ruhe kommen und genesen können», erklärt Silvia Andres.

    Hier geht es auch darum, immer wieder beim Betroffenen nachzufragen, wie es ihm geht, und die eigene Unterstützung anzubieten. 

  • Anlaufstellen suchen

    Sie können als Angehörige helfen, indem Sie dem Betroffenen professionelle Hilfe anbieten und ihn unterstützen, das richtige Angebot zu finden. «Zeigen Sie dem Betroffenen Möglichkeiten auf, wie er seinen Leidensdruck lindern kann», sagt Andres.

  • Sich Wissen aneignen

    Wer einer psychisch kranken Person helfen möchte, braucht zudem selber Wissen über die Krankheit und den richtigen Umgang. «Oft fühlen sich Angehörige ohnmächtig und haben Angst», sagt Andres. «Denn zum einen teilen sie den Schmerz des Betroffenen, zum anderen fragen sie sich, ob sie alles richtig machen.»

Die Expertin empfiehlt die Kurse der Online-Plattform «Erste Hilfe für Psychische Gesundheit» (ENSA). Die Plattform wurde 2019 von der Stiftung Pro Mente Sana mit Unterstützung der Beisheim Stiftung lanciert. Hier lernen Angehörige den richtigen Umgang mit psychisch Erkrankten.

Je nach Erkrankung gibt es zudem spezifische Hilfeleistungen und Tipps für Angehörige:

  • Depressionen

    • Akzeptieren Sie die Depression als echte und behandelbare Krankheit. Tun Sie sie nicht als Schwäche ab. 
    • Nehmen Sie die Gefühle des Gegenübers ernst – ohne sie zu bagatellisieren.
    • Führen Sie offene Gespräche über Sorgen, Ängste und Bedürfnisse, ohne Vorwürfe oder Druck auszuüben.
    • Nehmen Sie Warnzeichen für Suizid ernst. Sprechen Sie klar darüber und organisieren Sie bei akuter Gefahr professionelle Hilfe (etwa den Notruf).

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  • Suchterkrankungen

    • Unterstützen Sie – aber grenzen Sie sich ab. Der oder die Betroffene kann nur mit eigener Einsicht und Engagement gesund werden. Sie benötigen Ihre Grenzen, um Ihre eigene Gesundheit zu schützen.
    • Holen Sie sich Informationen und Unterstützung zu Suchterkrankungen.
    • Vermeiden Sie Drohungen wie etwa: «Wenn du noch einmal trinkst, trenne ich mich.» Solche Aussagen sind nachvollziehbar, jedoch helfen Sie dem Betroffenen und Ihrer gemeinsamen Situation nicht.
    • Meistens sind Angehörige Teil des Suchtsystems. Das heisst, sie unterstützen die Abhängigkeit durch ihr Verhalten. Das ist etwa der Fall, wenn die Ehefrau ihrem suchtkranken Mann den Wodka kauft, um den Wutanfall ihres Mannes zu Hause zu vermeiden. Oder aber jemand verschweigt dem gemeinsamen Umfeld, dass die Lebensgefährtin Alkoholikerin ist. Selbsthilfegruppen können Ihnen helfen, aus Ihrer Rolle im Suchtsystem auszubrechen.
    • Überlegen Sie für sich, wie Ihr persönlicher Rückfallplan aussieht. Was machen Sie, wenn die angehörige Person wieder konsumiert?
    • Fragen Sie sich regelmässig, ob die Beziehung für Sie noch stimmt. Und was Sie benötigen – zum Beispiel eine Paartherapie oder Trennung.

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  • ADHS

    • Halten Sie den Tagesablauf Ihres Kindes möglichst einfach und regelmässig. Dabei benötigt es ausreichend Freiraum für Aktivitäten, die ihm Spass machen und seinen Selbstwert stützen. 
    • Vermeiden Sie Ratschläge, dass Sie bei Ihrem Kind einfach härter durchgreifen sollten. Ein solches Vorgehen ist bei Menschen mit ADHS kontraproduktiv.
    • Sprechen Sie die Problematik im Freundeskreis an und gehen Sie offen damit um. 

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  • Borderline

    • Angehörige von Borderlinern haben oft das Gefühl, auf «rohen Eiern» zu gehen: Ein falsches Wort und der Betroffene geht an die Decke.
    • Es ist wichtig, dass Sie als Partner:in in die Therapie einbezogen werden, damit schwierige Situationen geklärt und Absprachen getroffen werden können.
    • Das emotionale Erleben von Menschen mit einer Borderlinestörung ist für andere oft nicht nachvollziehbar. Lernen Sie, die Emotionen der betroffenen Person zu validieren. Das bedeutet, sich in die Situation des anderen zu versetzen und seine Sicht vorerst zu bestätigen. Anschliessend können Sie auf alternative Perspektiven hinweisen, um auf die aktuelle Situation zu blicken. 
    • Es ist wichtig, dass sich Angehörige ihren Freiraum nehmen, ihre Grenzen setzen. Das ist bei Borderlinern manchmal besonders schwierig. Denn sie haben oft grosse Angst, verlassen zu werden. Da kann schon der wöchentliche Besuch eines Tanzkurses zu grossen Auseinandersetzungen führen. Oft verzichten Angehörige dann auf ihr Hobby. Das sollten Sie nicht tun.
    • Eine Paartherapie kann helfen, gemeinsame Regeln aufzustellen – etwa, um für Sie als Angehörige:r Freiräume zu schaffen.
    • Evaluieren Sie immer wieder für sich selber, ob Sie noch in dieser Beziehung sein möchten. Hören Sie auf Ihre eigenen Bedürfnisse, bleiben Sie nicht dem anderen zu liebe.  

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  • Bipolare Störung

    • Bringen Sie sich in die Therapie ein. Klären Sie mit dem Therapeuten oder der Therapeutin, was Ihre Aufgaben und Rolle sind: Was sollen Sie tun, wenn Ihr:e Partner:in manisch wird? Was sollten Sie unterlassen? 
    • Lassen Sie sich nicht in eine «Polizistenrolle» drängen, indem Sie etwa dafür verantwortlich sind, dass Ihr:e Partner:in die Medikamente einnimmt. Hier können die Spitex, ein Ambulatorium oder die Hausarztpraxis mit einer täglichen Überprüfung helfen. Das ist wichtig, weil Betroffene in manischen Phasen oft die Medikamente absetzen. 
    • Einen mansich-depressiven Menschen zu unterstützen, ist anstrengend. Deshalb ist es wichtig, dass Sie sich Ruhepausen und Zeit für sich gönnen.
    • In manischen Phasen können Betroffene sich und Situationen oft nicht mehr realistisch einschätzen. Das führt häufig zu finanziellen Verlusten. Besprechen Sie daher gemeinsam einen Plan zur Schadensbegrenzung.
    • Beziehen Sie andere Angehörige mit ein – und klären Sie, wer auf die Frühwarnzeichen einer kommenden Manie achtet und wer welche Schritte einleitet. Sonst laufen Sie Gefahr, in eine permanente Überwacherrolle zu rutschen.
    • Organisieren Sie sich für manische Phasen: Wer hilft Ihnen? Wer schaut ein paar Tage zu den Kindern? Wie klären Sie Ihr Umfeld auf? Gerade im Wohnumfeld bleiben manische Phasen oft nicht unbemerkt, da Betroffene oft nachts aktiv sind.
    • Mit der Ungewissheit zu leben, wann die Stimmung umschlägt, ist für Angehörige sehr belastend. Hier kann der Austausch mit anderen Angehörigen helfen.

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  • Schizophrenie

    • Die Schizophrenie ist eine sehr komplexe Krankheit. Angehörigen hilft es oft, sich mit Menschen auszutauschen, die betroffen, aber bereits fortgeschritten sind auf dem Weg der Genesung. 
    • Selbsthilfegruppen für Angehörige sind ein guter Ort, um Unterstützung zu finden und mehr über die komplexe Krankheit zu erfahren. 
    • Schreiben Sie einen Notfallbrief, um das Umfeld bei einem Notfall zu informieren und zu organisieren, wer Sie wie unterstützen kann.
    • Sind Sie bei den Behandlungsgesprächen dabei. Die Psychose, die der Schizophrenie zugrunde liegt, ist eine Krankheit, die immer das ganze Familiensystem betrifft.

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  • Angststörungen

    • Schauen Sie darauf, dass Sie nicht in die Therapeutenrolle rutschen. Der oder die Betroffene braucht Sie als Partner:in.
    • Vereinbaren Sie miteinander, wie Sie sich bei Zwängen der betroffenen Person verhalten sollen. 
    • Achten Sie darauf, sich zu erholen und ausreichend zu schlafen. So sind Sie besser gewappnet für die Zwänge Ihrer Partnerin oder Ihres Partners. Diese auszuhalten, ist für Angehörige oft sehr anstrengend. Spürt die betroffene Person Ihren Stress, nehmen die Zwangsgedanken eher zu.

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  • Burn-out

    • Unterstützen Sie Ihre:n Partner:in bei der aktiven Erholung. Wenn es die Zeit erlaubt und Sie dies möchten, können Sie entsprechende Aktivitäten zusammen unternehmen.
    • Bieten Sie der betroffenen Person an, mit jemand Drittem zu sprechen – einer Freundin oder einem Arbeitskollegen. Oft sind solche Gesprächspartner:innen besser als Angehörige.

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«Lernen Sie zuzuhören, ohne Lösungen bringen zu müssen.»

Silvia Andres

Wann sollte ich mir als Angehörige:r Hilfe holen

«Wir empfehlen Angehörigen, sich möglichst früh Unterstützung zu holen», sagt die Expertin. Sei es in Gesprächen mit anderen Angehörigen, die sich mit einem Familienmitglied in der gleichen Situation befinden, bei einer spezialisierten Organisation, um mehr Wissen zu erhalten, oder in einer Selbsthilfegruppe.

Silvia Andres hat jahrelang ihre an einer Depression erkrankte Mutter unterstützt, bis diese von ihr gegangen ist. «Als Angehörige von einem Menschen mit einer psychischen Erkrankung ist man oft auch schwierigen Launen und verletzlichen Worten augesetzt», sagt sie.

Gespräche mit anderen Angehörigen haben ihr geholfen, die Krankheit ihrer Mutter besser zu verstehen – gerade bei schmerzhaften Worten. «Ich habe erkannt, dass es die Krankheit war und nicht meine Mutter», sagt sie. 

Achten Sie auf Ihre eigenen Grenzen

Selbstfürsorge ist die wichtigste Voraussetzung, um einen kranken Menschen zu unterstützen – und dabei seine eigene Gesundheit zu schützen. Das mag einfach klingen.

Doch Silvia Andres weiss aus eigener Erfahrung und ihrer Arbeit mit Angehörigen, wie schwierig das sein kann. «Die meisten Angehörigen vernachlässigen sich dabei selbst, bis sie nicht mehr können», sagt Andres.

Deshalb sind Pausen unabdingbar, in denen Sie sich Zeit für sich nehmen – und auch immer wieder für sich evaluieren, wie viel Kraft Sie für Ihr betroffenes Familienmitglied aufwenden können.

«Es ist wichtig, dass Angehörige verstehen, dass sie weiterhin ein eigenes Leben haben, das sie auch geniessen sollen. Und dass sie Kraft für sich selber brauchen. Man darf Grenzen ziehen», sagt Andres.

Fachpersonen raten Angehörigen zudem dringend, weitere Personen aus dem Umfeld in die Betreuung des psychisch erkrankten Familienmitglieds einzubeziehen.

Anlaufstellen und Hilfe in der Schweiz

Die Angehörigenbewegung Stand by You Schweiz unterstützt Angehörige auf vielfältige Weise – mit einer Telefon-Helpline, Wissensvermittlung, aktuellen Informationen, einer Community-Plattform für Angehörige oder Podcasts.

Die Organisation Pro Mente Sana ist Anlaufstelle für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung, deren Angehörige und Fachleute. Sie hilft Betroffenen und Angehörigen, die passende Therapie zu finden, und berät online sowie telefonisch.

Auch das Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie bietet Hand für alle Arten von Fragen zum Umgang mit Betroffenen und deren Krankheiten.

Porträt für Stand by You. Foto: Bernard van Dierendonck
Über die Expertin

Als Beraterin begleitet Silvia Andres mit einem Team Angehörige von psychisch erkrankten Menschen bei der Angehörigenbewegung Stand by You Schweiz. Sie hat jahrelang ihre an einer Depression erkrankte Mutter unterstützt.

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