Dossier: Stress und Entspannung

Achtsamkeitstraining: Im Jetzt leben

Wie bewältigt man den Alltag mit Freude und Gelassenheit? Die Mindfulness-Trainerin Angelika von der Assen ist überzeugt, dass Meditation und Achtsamkeit der Schlüssel für ein erfülltes Leben sind.

Text: Julie Freudiger, Fotos: Kostas Maros

Im Alltag gibt es viele Stressfallen: fordernde Chefs, Termine ohne Ende, Konflikte in der Familie … Immer mehr Menschen stossen an die Grenzen ihrer Ressourcen. Laut Job-Stress-Index der Gesundheitsförderung Schweiz hat rund jeder fünfte Erwerbstätige Stress und fühlt sich erschöpft.

Auf der Suche nach Mitteln und Wegen, den Stress zu bewältigen, stösst man immer öfter auf die Schlagworte Meditation und Mindfulness. Achtsamkeit ist mittlerweile sogar in der Unternehmenswelt angekommen. Eine der ersten Coaches in der Schweiz, die Mindfulness in die Arbeitswelt gebracht haben, ist Angelika von der Assen. Die Organisations- und Unternehmenspsychologin sowie Achtsamkeitstrainerin weiss, wie man den Stress im Alltag bewältigt.  

Frau von der Assen, welches sind die grössten Stressfallen im Alltag?

Angelika von der Assen: Wir wollen einfach zu viel: einen tollen Job, Attraktivität, einen unvergesslichen Urlaub. Um alles zu erreichen, müssen wir unheimlich viel tun. Ich nenne das «Action Addiction», den Tun-Modus. Aber die grösste Stressfalle liegt zwischen den Ohren – in unserem Denken. Im Aussen gibt es eigentlich keinen Stress: Wie ich auf eine Situation reagiere, hängt von meiner Denkweise ab. Entweder lasse ich mich von meinen Gedanken, Emotionen und Glaubenssätzen steuern, oder ich bestimme bewusst, wie ich handeln will. Als Beispiel: Statt mir über die bevorstehende Reorganisation Sorgen zu machen, kann ich sie als Chance für neue Entwicklungen sehen. Hinzu kommt, dass unser Gehirn Dopamin ausschüttet, wenn wir etwas auf unserer mentalen To-do-Liste abhaken. Das «Belohnungshormon» macht süchtig.  

Wie kommen wir aus diesem Aktionismus raus?

Angelika von der Assen: Wir brauchen eine bessere Balance zwischen Tun und Sein. Wir müssen die Ruhe und das Nichtstun nutzen, um mit uns selbst in Kontakt zu treten. Viele Menschen wissen nicht, wie ihr Gehirn funktioniert. Woher die Gedanken kommen, die sie unter Druck setzen und die ihnen den Schlaf rauben. Um das herauszufinden, müssen wir innehalten und die Gedanken und die Atmung beobachten. Hier setzt das Achtsamkeitstraining an.
 

Was ist Achtsamkeit? Eine Definition

Die Übersetzung des englischen Begriffs «Mindfulness» mit dem deutschen Wort «Achtsamkeit» ist etwas missverständlich. Während die Bedeutung im Englischen eindeutig ist – es geht um den «Mind», also um den Geist oder die Gedanken –, wird «achtsam sein» oft mit «behutsam sein» gleichgesetzt. Bei Achtsamkeitstrainings geht es aber vielmehr darum, bewusst wahrzunehmen, was der eigene Geist oder die Gedanken machen. Angelika von der Assen sagt, die kürzeste Definition von Mindfulness sei Bewusstsein. Also ganz bewusst realisieren, was jetzt und im Moment geschieht. In anderen Worten: Achtsamkeit ist eine Form der Meditation. Wissenschaftler konnten durch die funktionale Magnetresonanztomografie vor gut zehn Jahren zeigen, dass sich das Gehirn durch regelmässige Meditation dauerhaft verändert. Aktuell besagt die Forschung, dass man an 21 aufeinanderfolgenden Tagen mindestens zehn Minuten meditieren muss, damit dieser Effekt eintritt.

Durch Achtsamkeit wird man erwiesenermassen fokussierter und effizienter. Setzen darum immer mehr Unternehmen auf Achtsamkeitstrainings?

Angelika von der Assen: Es gibt verschiedene Gründe für Achtsamkeitstrainings. Einer der wichtigsten ist das Stressmanagement. Achtsamkeit lässt uns besser mit Stress und Belastung umgehen. Dadurch werden Fehltage drastisch reduziert und sogar Burn-outs verhindert. Viele Angestellte sind heute am Anschlag. Das Hamsterrad dreht sich zu schnell. Wir brauchen neue Werkzeuge, um mit der Belastung umzugehen.

Wie kann ich Stress durch Achtsamkeit bewältigen?

Angelika von der Assen: Mit Achtsamkeit stärke ich meine Widerstandskraft. Auch wenn der Orkan um mich herum tobt, weiss ich, wie ich innerlich ruhig bleiben kann. Etwa indem ich mir bewusst mache, dass alles vergänglich ist. Auch die Krise ist irgendwann vorbei. Durch Meditation lerne ich zudem, mit starken Emotionen umzugehen, sie zuzulassen und zu akzeptieren. Der dritte Schritt ist, einen optimistischeren Lebensstil zu pflegen.  

Stress durch Gedanken

Schon beim Frühstück kreisen die Gedanken um die Arbeit, im Büro gehen wir gedanklich bereits die Besorgungen des Feierabends durch. Beim Einkaufen beschäftigt uns, dass wir ja eigentlich draussen sein und joggen sollten. Und wenn das endlich gelingt, wird dabei bereits der nächste Tag geplant. Das Gedankenkarussell dreht sich ununterbrochen. Wie soll es da helfen, stillzusitzen und die Atmung zu beobachten?

Inwiefern hilft Meditation, Stress zu bewältigen?

Angelika von der Assen: Durch Meditation lerne ich unter anderem, meine Gedanken bewusst wahrzunehmen und zu steuern. Täglich schiessen 60 000 bis 80 000 Gedanken durch unseren Kopf. Es ist sehr geschäftig da oben, wir geben uns dem einfach hin und lassen uns antreiben. Wenn wir die Funktionsweise unseres Geists kennen, sind wir unseren Gedanken nicht mehr ausgeliefert.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Angelika von der Assen: Ein Klient von mir hatte eine lange mentale To-do-Liste. Darauf stand unter anderem, er müsse sein Auto waschen. Eines Abends im Februar fand er sich selbst auf der Strasse wieder, wie er bei Eiseskälte sein Auto reinigte. Bis er realisierte, was er eigentlich tat. Wir handeln oft im Autopilotmodus und folgen stur unseren Gedanken.

Wie entkomme ich diesen unbewussten Automatismen?

Angelika von der Assen: Ich empfehle eine sogenannte heilige Pause. Die Zeit zwischen einem Reiz und meiner Reaktion ist das Feld aller Möglichkeiten. Wenn ich realisiere, was gerade passiert, kann ich mich bewusst entscheiden. Das ist Achtsamkeit. Zurück zum Beispiel: Der Klient hätte den Gedanken, dass er sein Auto waschen sollte, bewusst wahrnehmen und sich dann für eine andere Aktion entscheiden können, die ihm gut getan hätte – zum Beispiel ein heisses Bad nehmen.  

Achtsamkeit lernen

Was einfach klingt, ist nicht immer leicht umzusetzen. Häufig laufen die immer gleichen Reaktionsmuster ab, und ehe man sich’s versieht, hat man bereits auf eine Situation reagiert. Die gute Nachricht: Achtsamkeit kann man lernen. Und es gibt viele Übungen, die man auch zu Hause in den Alltag integrieren kann.

Welche Achtsamkeitsübungen können Sie empfehlen, um mit Stress im Alltag besser umzugehen?

Angelika von der Assen: Holen Sie beispielsweise dreimal tief Atem, wenn Sie von einer Tätigkeit in eine andere wechseln. Das entspannt und Sie können wieder klar denken. Oder wenn das Abendessen mit den Kindern turbulent ist, kann man kurz innehalten, bewusst dreimal tief Atem holen und realisieren: Das ist eine schwierige Situation, wie gehe ich weiter? Das Prinzip lautet immer: Reiz wahrnehmen – Pause – bewusste Entscheidung. Das muss und kann man üben. Und das ist schon unheimlich viel.

Meditation heisst also nicht zwingend, stundenlang still zu sitzen?

Angelika von der Assen: Sich regelmässig hinzusetzen und zu meditieren unterstützt das mentale Training. Aber es gibt auch viele integrierte Meditationen. Beispielsweise sich ganz auf den Abwasch zu konzentrieren – wie wenn man sich auf den Atem konzentrieren würde. Oder meditativ Zähne putzen, achtsam anderen zuhören, achtsam E-Mails schreiben. Als ob ich diese Dinge zum ersten Mal täte. Es geht darum, den eigenen Geist zu beobachten und kennenzulernen.

Muss man Meditieren erst einmal lernen?

Angelika von der Assen: Grundsätzlich kann jeder meditieren. Wir haben es nur verlernt. Kinder können das noch. Sie leben im Moment. Das ist die Definition von Achtsamkeit: im Hier und Jetzt sein. Kinder sind das. Und wir können das auch wieder lernen.

Verschwinden mit regelmässigem Training die lästigen Gedanken, die uns bestimmen und hetzen?

Angelika von der Assen: Wir können sie nicht ausschalten, aber uns bewusst werden, dass sie da sind. Querschiessende Gedanken werden auch in der Meditation, für die wir uns bewusst hinsetzen, immer kommen. Wir brauchen sie sogar, denn sie sind Teil des Trainings. Ich konzentriere mich auf meinen Atem und nehme den Gedanken wahr. Dann gehe ich bewusst zurück zum Atem. Das lässt sich auch im Arbeitsalltag anwenden. Wenn ich eine E-Mail schreibe und mir dabei eine SMS in den Sinn kommt, bemerke ich die Ablenkung – und entscheide mich dafür, weiter an der Mail zu arbeiten.  

Was braucht es für ein erfülltes Leben?

Angelika von der Assen: Ein erfülltes Leben ist, wenn man sich nicht nur vom Aussen leiten lässt, sondern gut mit sich selbst in Kontakt ist. Wenn man immer wieder still wird, hört man die innere Stimme. So wird man sich seiner Berufung bewusst – im Beruf und auch sonst. Es gibt im Aussen nichts, das glücklich macht. Glück ist immer etwas, das von innen kommt.  

Achtsamkeitsmeditationen zum Üben

Innehalten, eine Pause machen, atmen, den Körper beobachten und präsent sein: So einfach können Übungen sein, die unmittelbar helfen, Stress zu reduzieren. Angelika von der Assen stellt fünf ihrer Mindfulness Meditationen zur Verfügung.

Zu den Achtsamkeitsmeditationen.

Zur Person

Angelika von der Assen ist Organisationspsychologin und Mindfulness-Coach. Bevor sie sich 2019 mit «Mindful in Business» selbstständig machte, leitete sie zuletzt bei der Axpo Führungs- sowie Talentprogramme. Sie ist Trainerin für Search Inside Yourself (SYI) in der Schweiz, Lehrerin für «Achtsamkeit am Arbeitsplatz» sowie Trainerin bei Potential Project, einer achtsamkeitsbasierten Unternehmensberatung für Führungskräfte- und Organisationsentwicklung.  

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