Gleichgewichtsstörungen: Ursachen, Symptome und Behandlung
Unser Gleichgewichtssystem leistet einen hochkomplexen Job, damit wir Boden unter den Füssen haben. Doch immer wieder passieren ihm auch Fehler.

Manchmal gerät die Welt für einen Moment aus den Fugen: Es scheint so, als würde sich alles um uns drehen, der Boden unter den Füssen verschwinden oder als würden wir ins Leere fallen.
In einem solchen Moment stolpert unser Gleichgewichtssystem. Solche Störungen können aus den verschiedensten Gründen auftreten – und kommen häufig vor: Fast jede vierte Person erfährt im Laufe ihres Lebens mindestens einmal eine Gleichgewichtsstörung, mit zunehmendem Alter steigt das Risiko.
Das sorgt oft für Unbehagen. Umso wichtiger ist es, Symptome und Ursachen möglichst rasch zu erkennen, um richtig handeln zu können.
Gleichgewichtsorgan: Was steuert unser Gleichgewicht?
Gleich drei Organsysteme sind für unser Gleichgewicht zuständig: das Gleichgewichtsorgan, die Augen und die Tiefensensibilität.
Unser Gleichgewichtsorgan befindet sich im Innenohr. Es besteht unter anderem aus drei Bogengängen und den Haarsinneszellen, die mit dem Gleichgewichtsnerv verbunden sind. Die Bogengänge detektieren Drehbeschleunigungen in allen Ebenen des Raumes.
Über den Gleichgewichtsnerv sendet das Gleichgewichtsorgan Informationen an unser Gleichgewichtszentrum im Hirnstamm und im Kleinhirn.
«Schwindel ist etwas sehr Subjektives.»
Dort treffen auch weitere Informationen ein, die für die Aufrechterhaltung unseres Gleichgewichts zuständig sind: die visuellen Informationen, die unsere Augen beisteuern, sowie die Beschaffenheit des Untergrundes und die Stellung unserer Gelenke, die über die Tiefensensibilität ans Gehirn weitergeleitet werden.
Ohne die Tiefensensibilität könnten wir nicht wahrnehmen, wie sich Bewegung, Lage oder Haltung unseres Körpers zur Erde und zum Raum verhalten, in dem wir uns befinden.
Anschliessend gleicht das Gleichgewichtszentrum im Hirnstamm und im Kleinhirn die Informationen aus den drei Quellen ab und sendet Befehle an die Muskeln der Augen und des Bewegungsapparats, damit wir unser Blickfeld konstant und unseren Körper aufrecht halten.
Schwindel als führendes Symptom
Erhält unser Gleichgewichtszentrum widersprüchliche Informationen von den Sinnesquellen, kann dies Schwindel auslösen.
Ein Beispiel: Sie lesen im Auto. Das Gleichgewichtsorgan teilt Ihrem Gehirn mit, dass sich Ihr Körper in Fahrt befindet. Gleichzeitig melden die Augen jedoch eine statische Umgebung – der Blick auf die Buchstaben im Buch. Daraus kann sich das Gehirn keinen schlüssigen Reim machen. Es reagiert mit Schwindel und Übelkeit.
Schwindel – oft auch Vertigo genannt – ist ein wichtiges Symptom, das uns zeigt, dass etwas mit dem Gleichgewichtssystem nicht in Ordnung ist. Dabei sei Schwindel etwas sehr Subjektives, sagt Julia Dlugaiczyk. Die HNO-Ärztin und Professorin ist Co-Leiterin des interdisziplinären Schwindelzentrums am Universitätsspital Zürich.
«Kommt es plötzlich auch zu Kopfschmerzen, Doppelbildern, zur Gesichtslähmung oder halbseitigen Körperschwäche, ist besondere Aufmerksamkeit geboten.»
Bei den einen dreht sich die Welt um sie herum, andere fühlen mehr, dass sich ihr Körper im Raum dreht, wieder andere beschreiben ein Schwanken wie auf einem Boot oder das Gefühl, im Lift auf und ab zu fahren.
Mit zunehmendem Alter werde die Schwindelwahrnehmung zudem häufig diffuser, sagt die Ärztin. «Viele Betroffene nehmen den Schwindel dann gar nicht mehr als solchen wahr, sondern stellen oft eher fest, dass sie sich beim Gehen unsicherer fühlen.»
Ursachen von Gleichgewichtsstörungen
Es gibt viele verschiedene Gründe für Störungen im Gleichgewichtssystem – oft kommen mehrere Ursachen zusammen. Das macht die Arbeit von Ärztin Dlugaiczyk und ihrem Team komplex: «Nachdem uns die Patientinnen und Patienten ihre Symptome geschildert haben, fängt unsere Detektivsuche nach den Ursachen an.»
Oft gäben die Begleitsymptome Hinweis darauf, was die Störung verursacht, so die Expertin: Hat jemand neben dem Schwindel auch Hörprobleme, liegt die Ursache oft im Innenohr. Kommen hingegen Kopfschmerzen hinzu, handelt es sich häufig um eine Migräne als Auslöser.
Oder aber der Schwindel tritt primär beim Aufstehen auf, begleitet vom Schwarzwerden vor den Augen. Das deutet auf ein Herz-Kreislauf-Problem als Ursache hin.
«Kommen neben dem Schwindel plötzlich auch Symptome wie Kopfschmerzen, Doppelbilder, Gesichtslähmung oder eine halbseitige Körperschwäche dazu, ist besondere Aufmerksamkeit geboten», sagt die Professorin. In einem solchen Fall könne es sich auch um einen Schlaganfall handeln, der rasch behandelt werden muss.
Störungen im Ohr
Oft hat die Störung im Gleichgewichtssystem jedoch primär mit einer Ursache im Innenohr zu tun. Das sind die häufigsten Gründe für eine Störung im Ohr:
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Gutartiger Lagerungsschwindel
Dieser kann jeden treffen, egal in welchem Alter wir uns befinden. Das Risiko nimmt allerdings mit steigendem Alter zu.
Der Lagerungsschwindel entsteht, wenn sich die winzigen Ohrsteinchen, die sich im Gleichgewichtsorgan befinden, lösen und in die Bogengänge geschwemmt werden.
Typische auslösende Bewegungen für den Lagerungsschwindel sind etwa das Bücken zum Schuhbinden oder Drehungen von einer Seite auf die andere im Bett.
Bei diesen Bewegungen rollen die Steinchen durch die Flüssigkeit des Bogenganges – das stimuliert die Haarzellen im betroffenen Bogengang auf eine Weise, die nicht der tatsächlichen Körperposition entspricht.
So kommt es zum Schwindel. Nach 30 bis 60 Sekunden hört dieser wieder auf, weil die Steinchen nun wieder ruhig liegen. Jedoch wird der Schwindel bei einer erneuten Bewegung wieder ausgelöst.
Die gute Nachricht: Mit gezielten Befreiungsmanövern können Betroffene die Steinchen wieder an ihre richtige Position im Gleichgewichtsorgan bringen.
Diese Übungen können Patientinnen und Patienten selbst durchführen oder mit der Unterstützung durch Ärztinnen oder Physiotherapeuten. Für besonders hartnäckige Fälle kommen auch spezialisierte Behandlungsstühle zum Einsatz. «Die Übungen helfen in über 90 Prozent der Fälle», sagt die Schwindelspezialistin.
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Entzündung im Mittelohr
Kommt es im Mittelohr zu einem Infekt, kann dieser auch auf das Innenohr übergehen – und dort die Haarsinneszellen im Hör- und Gleichgewichtsorgan schädigen. Das kann zu Hörminderung und Schwindel führen.
Es kann zudem auch vorkommen, dass sich die Gleichgewichtsnerven entzünden – ohne dass dem eine Mittelohrentzündung vorausgeht.
Abhängig von der Ursache und der Ausprägung der Innenohrbeteiligung erfolgt die Behandlung mit Antibiotika, Medikamenten gegen Viren und Steroiden.
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Gutartige Veränderungen des Gleichgewichtsnervs
«In der Isolationsschicht des Gleichgewichtsnervs, der sogenannten Myelinscheide, kann es zu gutartigen Veränderungen kommen, die auf den Hör- und den Gleichgewichtsnerv drücken können – selten auch auf den Gesichtsnerv», sagt Dlugaiczyk.
Das erste Symptom sei meistens eine einseitige Verschlechterung des Gehörs, es könne auch zu Gleichgewichtsstörungen kommen.
Solange diese sogenannten Vestibularisschwannome nicht wachsen, werden sie regelmässig in der Kernspintomografie kontrolliert. Wenn sie grösser werden, kann eine Operation oder eine Bestrahlung erfolgen.
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Morbus Menière
Für diese Erkrankung sind spontan auftretende Schwindelattacken typisch, die mit einer Hörminderung mit Ohrdruck und einem Ohrgeräusch (Tinnitus) auf dem betroffenen Ohr einhergehen. Die Attacken dauern in der Regel mehrere Stunden an.
Während sich Hör- und Gleichgewichtsfunktion im Anfangsstadium nach den Attacken rasch wieder erholen, kommt es im langfristigen Verlauf meist zu einer zunehmenden Hörminderung auf dem betroffenen Ohr.
Die eigentliche Ursache für diese wiederkehrenden, äusserst unangenehmen Attacken ist trotz intensiver Forschung bislang nicht bekannt. Wie häufig in der Medizin geht man von einem multifaktoriellen Geschehen aus.
Unter anderem spielen dabei genetische Faktoren, Autoimmunerkrankungen und Störungen des Flüssigkeitshaushaltes im Innenohr eine Rolle. Auch Überlappungen mit der Migräne werden beobachtet.
Ein typischer Befund bei Betroffenen ist ein Übermass an Innenohrflüssigkeit – heute gut in der Kernspintomografie nachweisbar. Allerdings ist immer noch unklar, ob dies die Ursache, die Folge oder einfach ein Nebeneffekt der Erkrankung ist.
In der Therapie existiert bislang kein Goldstandard. Zur Prophylaxe der Schwindelattacken kommen je nach Schweregrad der Erkrankung sogenannte Stufenkonzepte zum Einsatz. Sie bestehen aus Tabletten oder Spritzen ins Ohr – falls das nicht funktioniert, kann in seltenen Fällen eine Operation am Ohr notwendig sein.
Langfristige Folgen wie Hörverlust, chronische Gleichgewichtsprobleme und psychosoziale Belastungen werden mit einem multimodalen Therapiekonzept behandelt. Dazu gehören zum Beispiel eine Versorgung mit Hörgeräten und eine psychologische Begleitung.
Störungen in anderen Organen
Nicht nur das Gleichgewichtsorgan im Ohr kann unsere Balance stören. Auch zahlreiche Probleme in anderen Organen des Körpers können unser Gleichgewichtssystem durcheinanderbringen:
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Herz-Kreislauf-Erkrankungen
Das Herz-Kreislauf-System versorgt sowohl die Gleichgewichtsorgane im Innenohr als auch das Gleichgewichtszentrum im Gehirn mit Sauerstoff und anderen Nährstoffen. Daher können auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen Schwindel auslösen – so etwa zu niedriger oder zu hoher Blutdruck.
Auch Herzrhythmusstörungen und Durchblutungsstörungen des Gehirns, wie etwa beim Schlaganfall, können sich in Schwindel äussern.
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Neurodegenerative Krankheiten
Wenn die neuronalen Funktionen im Gehirn nachlassen – wie bei Demenz, Alzheimer oder Parkinson, kann das ebenfalls das Gleichgewichtssystem beeinträchtigen.
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Weitere neurologische Erkrankungen
Auch andere neurologische Erkrankungen können das Gleichgewichtssystem im Gehirn stören. Am häufigsten ist hier die Migräne, die neben Kopfschmerzen auch zu Schwindelattacken führen kann. Fachpersonen sprechen hier von der «vestibulären Migräne».
Schwindel kann auch im Rahmen von entzündlichen Krankheiten des Gehirns auftreten – zum Beispiel bei Hirnhautentzündungen oder multipler Sklerose.
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Gehirnerschütterung
Traumata am Kopf – wie eine Gehirnerschütterung – können ebenfalls Schwindel hervorrufen.
Hier gibt es mehrere Ursachen, dazu zählen Brüche in der knöchernen Hülle des Gleichgewichtsorgans (Felsenbeinfraktur), eine Erschütterung der Gleichgewichtsorgane oder Schäden in der Gleichgewichtszentrale des Gehirns.
Durch einen Kopfanprall können auch die Ohrsteinchen in die Bogengänge des Innenohrs verrutschen und einen posttraumatischen Lagerungsschwindel auslösen.
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Psychische Probleme
Egal ob unsere Welt «auf dem Kopf steht» oder uns «der Boden unter den Füssen weggezogen» wird: Der enge und komplexe Zusammenhang zwischen körperlichem und seelischem Gleichgewicht spiegelt sich nicht nur in unserer Alltagssprache, sondern auch in vielen Erkrankungen des Gleichgewichtssystems wider.
Zum einen ist Schwindel ein wichtiges Warnsymptom unseres Körpers, das in der Folge heftige Angst und begleitende Symptome wie Herzrasen, Schweissausbrüche und Ohnmachtsgefühle auslösen kann.
Umgekehrt können Angst und Panik auch zu Schwindel führen, wie etwa bei Panikattacken, Höhenangst und Agoraphobie (Angst vor weiten, offenen Plätzen).
Langfristig können solche Ängste dazu führen, dass wir bestimmte Situationen vermeiden, wie etwa Ansammlungen von Menschen oder Veranstaltungen mit Freunden. Oft führen solche Verhaltensweisen zum sozialen Rückzug.
Abhängig von der genauen Ursache kommen hier psychologische Therapieverfahren zum Einsatz. Häufig ist dies die kognitive Verhaltenstherapie, seltener sind es auch Medikamente, als Teil eines multimodalen Therapiekonzepts.
Gleichgewichtsstörungen im Alter
Mit steigendem Alter degenerieren unsere Sinne, da die Leistungsfähigkeit unserer Zellen abnimmt und damit auch die unserer Sinneszellen. Werden die sensorischen Inputs unserer Sinneszellen schlechter, kommen häufiger widersprüchliche Informationen im Gehirn an.
«Mit steigendem Alter wird es immer wahrscheinlicher, dass wir Gleichgewichtsstörungen erleben», sagt Professorin Julia Dlugaiczyk. Die Gründe hierfür sind vielfältig: Im Innenohr nimmt die Anzahl der Haarsinneszellen und Nervenfasern des Gleichgewichtsnervs ab.
Zudem werden die Ohrsteinchen brüchig, sodass sie sich häufiger von ihrer Unterfläche lösen und einen Lagerungsschwindel auslösen können.
Zusätzlich ist im Alter das Gleichgewichtszentrum im Hirnstamm und im Kleinhirn häufiger von neurodegenerativen Erkrankungen oder Durchblutungsstörungen betroffen. Dadurch verarbeitet unser Gehirn Gleichgewichtsreize langsamer. Das führt dazu, dass sich unser Körpergleichgewicht nicht mehr so schnell an Veränderungen in der Umgebung anpassen kann – das Sturzrisiko steigt.
Der Funktionsverlust im Alter betrifft jedoch nicht nur den Gleichgewichtssinn, sondern auch andere wichtige Informationsquellen wie das Sehvermögen, die Tiefensensibilität und die räumliche Orientierung durch das Gehör. «Zusammen mit dem Rückgang an Muskelmasse und den zunehmenden Problemen des Bewegungsapparats kommt es zu den häufig als Altersschwindel bezeichneten komplexen Gleichgewichtsproblemen», sagt Dlugaiczyk.
Für die Schwindelexpertin ist der Begriff «Altersschwindel» irreführend. «Das klingt so, als sei es etwas Schicksalhaftes, das man im Alter einfach so hinnehmen müsse. Zum Glück ist das in vielen Fällen nicht so.»
Denn: Mit einer interdisziplinären fachärztlichen Beurteilung und den entsprechenden Therapien können Betroffene ihr Risiko für den Schwindel und die damit verbundene Gefahr eines Sturzes vermindern. Manchmal sei es tatsächlich «nur» ein unentdeckter Lagerungsschwindel, der schnell und wirksam therapiert werden könne, sagt Dlugaiczyk.
Zu Störungen des Gleichgewichts und damit verbundenen Gangproblemen führten zudem oft auch Medikamente, sagt Dlugaiczyk. Bestimmte Arzneien erhöhen das Sturzrisiko bei älteren Menschen. Die Ärztin empfiehlt, Neben- und Wechselwirkungen der Arzneien in der Hausarztpraxis prüfen zu lassen und bei Problemen die behandelnde Fachperson zu konsultieren.
Weitere Ursachen
Auch äussere Einflüsse können unser Gleichgewicht stören. Das sind die wichtigsten Einflussfaktoren:
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Alkohol
Alkohol beeinträchtigt die Gleichgewichtskontrolle auf mehreren Ebenen.
Zum einen wirkt Alkohol akut direkt auf das Gleichgewichtsorgan. Dort führt er zur Fehlstimulation der Bogengänge – in der Folge fühlen wir uns schwindlig, besonders beim Liegen.Alkohol wirkt akut auch auf das Kleinhirn. Dieser Teil des Hirns regelt unsere Koordination sowie die Bewegung unseres Körpers und unserer Augen. Kann das Kleinhirn nicht mehr richtig arbeiten, kommt es zu den bekannten Symptomen: Standunsicherheit, schwankender Gang und Koordinationsstörungen.
Zudem beschädigt Alkohol die Nervenfasern, die besonders für die Tiefensensibilität verantwortlich sind – das heisst, wie wir wahrnehmen, in welcher Lage und Ausrichtung sich unser Körper im Raum befindet.
Menschen, die chronisch zu viel Alkohol konsumieren, schädigen ihr Kleinhirn dauerhaft. Ein solcher Überkonsum führt ebenfalls zu Einschränkungen der Tiefensensibilität an Füssen und Beinen, was die Gangunsicherheit verstärkt.
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Medikamente
Verschiedene Medikamente haben Nebenwirkungen, die Schwindelgefühle auslösen können.
Zum einen sind das Arzneien, welche die Sinneszellen im Gleichgewichtsorgan schädigen, wie etwa bestimmte Antibiotika oder Entwässerungsmedikamente.
Zum anderen zählen auch Substanzen dazu, welche die Aktivität des Gleichgewichtszentrums im Gehirn dämpfen. Zu ihnen zählen Beruhigungsmittel, Schlaftabletten, Muskelentspanner, Antiepileptika, Migränemittel oder Antidepressiva.
Auch eine zu hohe Dosierung von Blutdrucksenkern kann zu Schwindel führen.
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Reisekrankheit
Wenn wir auf Reisen sind, kann das unser Gleichgewichtsorgan im Innenohr durcheinanderbringen. Hierzu zählt der schwankende Boden auf einem Schiff, eine kurvige Passstrasse mit dem Auto oder Turbulenzen während eines Flugs.
In solchen Situationen senden die Sinneskanäle teilweise widersprüchliche Informationen an das Gehirn. Daraus kann sich das Gehirn keinen Reim machen – in der Fachsprache spricht man hier von einem sensorischen «Mismatch».
Gleichgewicht trainieren: Übungen für den Alltag
Egal wie alt Sie sind: Unsere Sinne mögen es, trainiert zu werden! Denn wenn wir sie nicht aktiv einsetzen, dann lassen sie nach. Das gilt auch für unseren Gleichgewichtssinn:
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Bewegung in der Natur
«Ein aktiver Lebensstil mit viel Bewegung draussen ist das Wichtigste, um unseren Gleichgewichtssinn zu trainieren», sagt Professorin Julia Dlugaiczyk.
Bereits regelmässiges Spazieren im Wald hilft hier. Besonders die wechselnde Beschaffenheit des Bodens tut unserem Gleichgewicht gut. Mal ist der Boden im Wald uneben, mal steil, mal härter, mal weicher. Das fördert die sensorische Tiefensensibilität – also die Inputs, die besonders unsere Füsse und Gelenke ans Gehirn schicken.
Diese Informationen sind wichtig, damit sich unser Gleichgewichtszentrum im Gehirn ein Bild davon machen kann, wie unser Körper zur Erde positioniert ist und wo wir uns befinden.
Wer es etwas aktiver will, dem empfiehlt die Expertin die vielen Vitaparcours in der Schweiz.
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Musik und Tanz
Gehen Sie öfter tanzen! Beim Tanzen muss unser Gehirn extrem viele verschiedene Abläufe im Körper koordinieren. Entsprechend hoch und komplex ist die Hirnaktivität. Das fördert unter anderem unsere kognitive Kapazität – und unser Gleichgewicht.
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Mit Bällen spielen
Die einfachste Übung mit Ball: Nehmen Sie einen kleinen Ball und spielen Sie diesen gegen eine Wand. Wechseln Sie die Unterlage, auf der Sie stehen: Spielen Sie auf dem Boden, dann auf einer Matte.
Sie können aber auch jede andere Ballspielart wählen. «Ballsportarten trainieren besonders gut unsere Haltungskontrolle, die Stabilisierung unseres Blickfelds und die Hand-Auge-Koordination», sagt Expertin Dlugaiczyk.
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Balance üben
Um unsere Balance zu trainieren, gibt es auch verschiedene Übungen für zu Hause. Stellen Sie sich dazu in die Ecke eines Zimmers, ohne mit dem Körper die Wand zu berühren. Die Massnahme gilt als Sicherheit, sollten Sie die Balance verlieren.
Schritt eins: Rollen Sie auf Ihre Zehen und verweilen Sie hier, die Fersen sind in der Luft.
Schritt zwei: Stehen Sie auf einem Bein, ziehen Sie dafür das rechte Knie gebeugt Richtung Brust, halten Sie für einige Atemzüge. Wechseln Sie dann die Seite.
Schritt drei: Gehen Sie gerade auf einer Linie. Setzen Sie dazu einen Fuss vor den anderen. Sie können die Schwierigkeit steigern, indem sie den Untergrund wechseln und Hindernisse einbauen.
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Spezialisierte Gleichgewichts-Physiotherapie
«Die spezialisierte Physiotherapie ist für viele Formen von Gleichgewichtsstörungen die wirksamste Therapie, die wir zur Verfügung haben – und die beste Sturzprophylaxe», sagt Schwindelexpertin Dlugaiczyk.
In der Fachsprache ist hier oft von der «vestibulären Physiotherapie» die Rede. Abhängig von der Diagnose, dem Ausmass der Gleichgewichtsstörung und den Anforderungen im Alltag führen die speziell geschulten Therapeutinnen gemeinsam mit den Patienten ein individuelles Trainingsprogramm durch.
Die enge Kooperation zwischen Patientinnen, Physiotherapeuten und Ärztinnen ist hier essenziell, um frühzeitig auf Veränderungen reagieren zu können und das Trainingsprogramm entsprechend anzupassen.
Weitere Tipps zur Vorbeugung
Es gibt zahlreiche Tipps, mit denen Sie Schwindel und Gleichgewichtsstörungen vermeiden – und die Funktion Ihrer Sinnesorgane fördern können:
- Ausreichend Wasser trinken. Es sollten mindestens zwei Liter pro Tag sein.
- Schlafen Sie regelmässig und genug.
- Ernähren Sie sich ausgewogen und mit frischen Produkten.
- Reduzieren Sie Ihren Alkoholkonsum. Wie die Wissenschaft heute weiss, sind bereits kleinste Mengen für die Gesundheit schädlich.
- Sorgen Sie für mehr Ausgleich im stressigen Alltag. Yoga, Meditation oder andere Methoden zur Achtsamkeit helfen uns, sowohl das innere als auch das äussere Gleichgewicht wieder zu finden.
- Bewegen Sie sich regelmässig – egal in welchem Alter. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren, sich wöchentlich mindestens 150 bis 300 Minuten bei «mässiger Intensität» zu bewegen. Alternativ sind auch 75 bis 150 Minuten Bewegung im hohen Intensitätsbereich ausreichend.
- Vermeiden Sie wenn möglich Medikamente, die das Gleichgewicht beeinträchtigen – vor allem Schlaf- oder Beruhigungsmittel.
Diagnose und Behandlung
Die Ursachen für Störungen unseres Gleichgewichts sind zahlreich, entsprechend unterschiedlich kann die Diagnose ausfallen. «Die erste Anlaufstelle ist die Hausarztpraxis», sagt Schwindelexpertin Dlugaiczyk. «Die Anamnese gibt in den meisten Fällen bereits entscheidende Hinweise für die Ursache.» Abhängig davon verweisen Hausärztinnen ihre Patienten anschliessend an die Spezialistinnen.
Liegen die Probleme im Innenohr, ist dies der Hals-Nasen-Ohren-Spezialist (HNO). Geht es ursächlich um neurologische Störungen, kann die Neurologie weiterhelfen. Führt eine Sehstörung zu Gleichgewichtsproblemen, therapiert eine Augenärztin. Und bei Herz-Kreislauf-bezogenen Ursachen behandeln Internisten oder allenfalls Kardiologinnen.
Es gibt auch interdisziplinäre Einrichtungen wie das interdisziplinäre Zentrum für Schwindel und neurologische Sehstörungen am Unispital Zürich. Dort arbeiten Spezialistinnen und Spezialisten aus mehreren Fachrichtungen zusammen: Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Neurologie, Augenheilkunde, Psychiatrie und Psychosomatik sowie Physiotherapie.
Bei Bedarf hole das Zentrum auch Kolleginnen und Kollegen anderer Fachrichtungen hinzu, sagt Dlugaiczyk. «So stellen wir sicher, dass unsere vom Schwindel geplagten Patientinnen und Patienten eine massgeschneiderte Diagnostik und Therapie erhalten, um – im wahrsten Sinne des Wortes – wieder auf die Beine zu kommen.»
Auch wenn nicht jeder Schwindel heilbar sei, so lasse sich doch in den meisten Fällen die Lebensqualität deutlich verbessern, sagt die Expertin. Das Zentrum stehe Patientinnen und Patienten mit allen Arten von Schwindel offen – vom «einfachen» Lagerungsschwindel bis hin zu komplexen Gleichgewichtsstörungen.