Dossier: Familie

Wenn Kinder depressiv sind

Depression ist eine bittere Diagnose, gerade bei Kindern. Doch sie wird immer häufiger gestellt. Woran erkennen Eltern, dass es sich um mehr als bloss eine Phase handelt? Und wie finden Familien gemeinsam wieder aus der Krise?

Text: Jessica Braun; Foto: iStock

Als die 13-jährige Tina (Name von der Redaktion geändert) sich zurückzuziehen begann, bemerkte ihre Mutter das anfangs nicht. Sie haderte noch mit der Trennung von Tinas Vater, auch wenn diese schon zwei Jahre zurücklag. Ausserdem kämpfte sie selbst mit einer psychischen Erkrankung. Doch es beunruhigte sie, dass die Tochter immer häufiger vor Schulschluss nach Hause kam.

An manchen Tagen wollte sie gar nicht mehr in den Unterricht gehen. Abends fiel dem Teenager das Einschlafen schwer. Die Mutter sprach sie darauf an. «Tina brach in Tränen aus. Sagte, sie schaffe es nicht mehr, in die Schule zu gehen. Sie zweifle an sich. Aus ihr würde sowieso nichts werden», erinnert sich Gunter Groen.

Groen ist Professor für Psychologie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg, Schwerpunkt Kinder- und Jugendpsychiatrie. In seiner Praxis arbeitet der Psychotherapeut unter anderem mit Kindern, die an Depressionen leiden. Tina ist eine seiner Patientinnen.

Eine Erkrankung, viele Auslöser

Erst kuscheln, dann türenknallen: Kommen Kinder in die Pubertät, wissen Eltern oft nicht, wie sie auf deren Verhalten reagieren sollen. Die Heranwachsenden sind in innerem Aufruhr, fühlen sich von ihrem Körper verraten und von der Familie missverstanden. Ihr Bedürfnis nach Zuneigung ist gross. Der Wunsch, autark zu sein, ist aber oft noch stärker. 

Für Eltern ist es dann nicht einfach, die aktuellen Bedürfnisse ihres Kindes zu erspüren. Und so sind die Wege in eine Depression ganz unterschiedlich, begünstigt durch einen Mix individueller Faktoren. Dazu zählen:

  • genetische Disposition; eine verletzbare Persönlichkeit
  • Belastungen im Elternhaus wie Krankheit oder Trennung; Eltern, die nicht geben können, was das Kind braucht 
  • Probleme in der Schule; zerbrechende Beziehungen; Cybermobbing 
  • Klima-Angst; Kriegsnachrichten; die Corona-Pandemie

Symptome einer Depression bei Kindern

«Die meisten Heranwachsenden erleben Phasen, in denen sie traurig sind oder Selbstzweifel spüren. Das ist etwas absolut Normales», sagt der Psychologe. Kommen mehrere Symptome zusammen, können Kinder nicht schlafen, wollen sie nicht essen und sind lethargisch oder auch reizbar und aggressiv, können das Anzeichen für eine depressive Episode sein. Denn Depression ist kein reines Erwachsenenproblem – sie ist die häufigste psychische Erkrankung bei Kindern und Jugendlichen. 

«Auch Grundschulkinder können Phasen mit ernst zu nehmenden Stimmungsproblemen haben.»
Prof. Dr. Gunter Groen, Psychologe

So können Eltern bei Depressionen helfen

Seit der Coronapandemie ist die Zahl der Betroffenen noch einmal merklich gestiegen: Laut einer Erhebung der UNICEF im vergangenen Winter litten ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen in der Schweiz und in Liechtenstein unter psychischen Problemen. Und genauso viele Jugendliche gaben in der Umfrage an, mit niemandem über diese Belastung zu reden.

Klar: Eltern spüren es, wenn sie als Ansprechpersonen nicht die erste Wahl sind. Aber, zuhören ist wichtig, auch wenn die Stimmung des Kindes die Kommunikation vielleicht schwierig macht. «Versuchen Sie nicht, vorschnell zu beschwichtigen oder die Situation runterzuspielen. Kein ‹Kopf hoch, das wird schon wieder!›, oder: ‹Das war bei mir früher genauso›», sagt Gunter Groen.

In einer Umfrage nannten Betroffene Sätze, die sie gerne hören möchten. Es sind einfache Botschaften wie «Ich bin für dich da» oder «Kann ich dich unterstützen?». Sie zeigen dem Kind, dass man seine Gefühle wahrnimmt und diese eine Berechtigung haben.  

Eltern können unterstützen, indem sie Zuwendung zeigen und gemeinsam mit dem Kind Lösungen suchen: «Gibt es familiäre Belastungen, die ich mit dem Kind besprechen kann? Wünscht es sich mehr Zeit und Zuwendung von uns? Gibt es Stress in der Schule? Gibt es zu viele Anforderungen? Oder zu wenige? Fehlt es vielleicht an Struktur und Freizeitaktivitäten?», so der Psychotherapeut. 

Wann benötigt mein Kind professionelle Hilfe?

Depressive Episoden zeichnet aus, dass die Symptome über zwei Wochen oder länger gesammelt auftreten – und das unabhängig davon, was sich im Leben des Kindes gerade abspielt. Der anstehende Geburtstag oder der Sieg der Lieblingsmannschaft? Alles gleich grau. Eltern sollten offen dafür sein, frühzeitig professionelle Hilfe zu suchen, sagt Groen. «Eine ernste psychische Erkrankung ist da nicht anders als ein entzündeter Blinddarm. Den können Vater oder Mutter auch nicht selber operieren.»

Erste Anlaufstellen: medizinische Fachpersonen oder die Krankenkasse. Sie helfen, den nächsten Schritt zu machen und einen Therapieplatz zu finden. Seit der Pandemie haben sich die Wartezeiten in der Schweizer Kinder- und Jugendpsychiatrie verlängert. Studien zeigen jedoch, dass eine ambulante Behandlung in vielen Fällen der beste Weg aus der Krise ist.

Anlaufstellen

In der Kinder- oder Hausarztpraxis finden Eltern eine erste Beratung sowie weiterführende Adressen und Ansprechpersonen. Bei einer ernst zu nehmenden depressiven Entwicklung sollten Eltern auch den Austausch mit der Schule nicht scheuen.  

Die Schweizer Stiftung für Kinder- und Jugendförderung Pro Juventute bietet unter der Nummer 147 oder auf 147.ch Hilfestellung für Kinder und Jugendliche und berät Eltern rund um die Uhr per Telefon, Chat oder E-Mail. 

Auch der Elternnotruf ist auf elternnotruf.ch oder telefonisch unter 0848 35 45 55 rund um die Uhr zu erreichen. 

Eigene Stärken entdecken

Tina kommt nun seit mehr als acht Monaten in seine Praxis. Sie ist deutlich stabiler. Ihre Mutter hat mit ihr über die schmerzhafte Trennung gesprochen – und mit dem Vater darüber, wie man das Kind entlasten könnte. Das elterliche Übereinkommen: Tina darf kein Sprachrohr für gegenseitige Vorwürfe mehr sein.

Gunter Groen sagt, die 13-Jährige habe bereits Strategien entwickelt, um sich selbst zu helfen. «Sie hat gelernt, mit ihren Eltern über ihre Gefühle zu sprechen. Sie verabredet sich regelmässig und verschafft sich durch Hobbys kleine Erfolgserlebnisse.» Ihre neue Leidenschaft: ein analoger Fotoapparat. «Sie sieht die Welt nicht gleich rosarot, aber realistischer und nicht mehr nur schwarz. Sie hat ihre Stärken entdeckt», so der Therapeut.  

Lesetipp

«Wie wird mein Kind wieder glücklich?» (Verlag Hogrefe) von Gunter Groen ist ein praxisnaher Ratgeber für Eltern betroffener Kinder und Jugendlicher. 

ISBN: 9783456859590

2. überarbeitete Auflage 2019, 160 Seiten

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