Ich höre was, was du nicht siehst

Die Musikerin Elisabeth Sulser ist Synästhetin. Sie sieht Töne als Farben – C ist rot, Cis rosarot – und sie schmeckt sie auch. Mit dieser Fähigkeit stösst sie auf viel Interesse, manchmal aber auch auf Unverständnis.

Text: Julie Freudiger; Foto: Nicola Tröhler;Video: Sebastian Klinger

Erst mit 16 Jahren haben Sie bemerkt, dass Sie Töne anders wahrnehmen als Ihre Mitmenschen. Warum so spät?

Von Beginn an hat alles extrem auf mich eingewirkt: Töne, Farben, Geschmäcker. Als Kind habe ich aber geglaubt, dass dies normal sei und ich mich einfach vor gewissen Tönen schützen müsse. Erst mit 16 erkannte ich, dass es die anderen einfacher haben. Sie nehmen alles sortiert wahr und nicht auf einmal so wie ich.

Was gab den Ausschlag zu dieser Erkenntnis?

Es war ein ganz normaler Abend mit einer Freundin in Chur. Es regnete stark und ich realisierte plötzlich, dass dieses prasselnde Geräusch den Grundton G hat und dass G blau ist. Ich verstand diese Wahrnehmung zuerst selbst nicht. Als ich aber die Tonleiter durchging, sah ich sie farbig vor mir: C ist rot, Cis ist rosarot und so weiter. Meine Freundin wusste nicht so recht, wovon ich sprach. Auch meine Eltern waren ratlos und meinten, ich sei vielleicht übermüdet gewesen. Also begann ich zu recherchieren und stellte fest, dass Synästhesie ein Wahrnehmungsphänomen ist, das auch bei manchen anderen Menschen vorkommt. Das war eine Erleichterung!

Nehmen Sie uns bitte trotzdem mit auf die Reise: Was nehmen Sie wahr, wenn Sie Musik hören?

Sobald das Musikstück beginnt, werden vor meinem inneren Auge Farben wie auf einer Leinwand aufgetragen. Sie verändern sich ständig. Hinzu kommen Formen wie Kreise oder kleine Vierecke bei einem Schlagzeugeinsatz. Je nach Tonintervall habe ich zudem einen Geschmack auf der Zunge. Eine kleine Terz etwa schmeckt salzig, eine grosse süss, die Quinte nach einem Glas Wasser, die kleine Sexte rahmig wie Vollrahm.

Elisabeth Sulser nimmt Musik anders wahr als viele Mitmenschen – sie sieht und schmeckt Töne.

Wie funktioniert die Kommunikation mit anderen Musikern?

Es kommt vor, dass gewisse Passagen in einem Stück für mich nicht gehen. Ich spüre dann einen inneren Widerstand, was auch an der Farbe liegt. Oft ist es mir wichtig, dass ich die Tonart oder die Gestaltung des Stückes mitbestimmen kann. Wenn ich solo oder zu zweit spiele, ist es am einfachsten, aber mit den richtigen Leuten ist auch gemeinsames Musizieren in der Gruppe ein Genuss.

Nehmen Sie das alles auch bei Alltagsgeräuschen wahr?

Ich sehe Farben, wenn ich den Grundton heraushöre. Etwa beim Klang von Kirchenglocken oder eines Alarms. Wenn morgens der Kaffee aus der Maschine läuft, sehe ich beispielsweise einen hellblauen Strich. Höre ich keinen Grundton, nehme ich eine graue Figur wahr. Alltagsgeräusche schmecken aber meistens nicht. Bei Stimmen nehme ich verschiedene Materialien wie Stein, Sand, Erde, flüssiges Metall, Stoff, Wein und Luft wahr.

Das ist bestimmt sehr intensiv. Ist die doppelte Wahrnehmung manchmal auch eine Bürde?

Nein, ich kenne es nicht anders. Die Synästhesie hat viele Vorteile für mich als Musikerin: Da ich ein Stück vor mir sehe, kann ich mich an den Farben und Formen orientieren. Ich muss nie üben, um ein Stück auswendig zu lernen.

Wie schalten Sie ab?

Ich bin gerne allein und wohne auf dem Land. Ich brauche die Ruhe. Und ich male Musik. Gefällt mir ein Stück farblich, höre ich es so oft, bis ich das Ganze erfasst habe. Den schönsten Ausschnitt male ich. Danach sehe ich die Farben intensiver, alles ist klar und geordnet. Das Malen wirkt reinigend, es ist wie Aufräumen.

Expertentipp

Prof. Dr. Lutz Jäncke, Professor für Neuropsychologie

«Synästhesie ist eine Doppelwahrnehmung, bei der zwei Hirnareale miteinander verbunden und simultan aktiv sind. Synästhesie entwickelt sich, weil das Gehirn der betroffenen Menschen von Geburt an besonders vernetzt ist. Wenn sie sich nun mit etwas intensiv auseinandersetzen, bilden sich auf dieser anatomischen Grundlage individuelle Synästhesien aus. Synästhesie ist keine Krankheit, sondern eine besondere Form des Normalen.»

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