Interview mit Guillaume Christe, Physiotherapeut

Physiotherapeutinnen und -therapeuten, die in einer Praxis beschäftigt sind, fehlt gegenwärtig meist der Zugang zu Datensystemen für die interprofessionelle Kommunikation. Sie profitieren aber vor allem von digitalen Anwendungen zur Ergänzung der physiotherapeutischen Behandlungen. Hier gäbe es noch viel Potential für die Entlastung des Gesundheitssystems.

Herr Christe, welche Rolle spielt die Digitalisierung im Bereich der Physiotherapie?

Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die sich auch in der Physiotherapie verändert haben. Es gibt Tools, die uns die Beurteilung von Patienten, und damit die Behandlungen erleichtern. Werkzeuge, die die Informationsübermittlung zwischen Gesundheitsfachleuten betreffen, das ist wirklich sehr wichtig für die Interprofessionalität. Wobei die in einer Praxis beschäftigten Physiotherapeuten hier etwas aus dem Loop zu fallen scheinen – und so wichtige Informationen fehlen, etwa, wenn Patienten aus dem Spital entlassen werden und zu uns kommen. Da wäre es auch nicht schlecht, wenn die Daten zu Auswirkungen verschiedener Behandlungsformen etwas systematischer gesammelt würden.

Und dann gibt es im Bereich der Physiotherapie sehr viele mobile Anwendungen für Patientinnen und Patienten, die das Selbstmanagement erleichtern. Das gibt den Leuten mehr Freiheit und Unabhängigkeit.

Hat sich dadurch auch Ihre Beziehung zu Ihren Patientinnen und Patienten verändert?

Momentan handelt es sich bei diesen Tools eher um eine Ergänzung zu den Sitzungen, und nicht um echtes Selbstmanagement. Der Physiotherapeut, die Physiotherapeutin steht noch im Fokus, und das Digitale ist eine Ergänzung, um zum Beispiel zu Hause Übungen zu machen. Da gibt es vieles, was man digital machen kann. So nehmen die Patientinnen und Patienten diese Angebote auch gut an. Allerdings haben wir nun in der Pandemie auch gesehen, wie schnell man sich an digitale Umgebungen gewöhnen kann. So könnte man sich vorstellen, dass bestimmte Patienten von Anfang an und überwiegend über ein digitales System betreut werden.

Diese Zugänge sprechen auch Leute an, die wenig Zeit haben, oder solche, die es schätzen, wenn sie ihre Übungen zu Hause machen können, in einer Umgebung, in der sie sich wohlfühlen. Hier gäbe es Potential für Virtual Reality. Das ist allerdings noch sehr teuer und steht am Anfang.

Was würde das für Ihre Arbeit bedeuten?

Es gibt noch vieles, wofür wir den direkten Kontakt und menschliche Interaktion benötigen. Und es gibt grossen Bedarf an individualisierten Erklärungen und Übungen. Aber für einen Teil der Menschen, denen es nicht allzu schlecht geht, kann eine gut gemachte digitale Hilfe ein echter Mehrwert sein. Vor allem im Bereich der muskuloskelettalen Probleme, wie Arthrose oder Rückenschmerzen. Diese Beschwerden sind weltweit Ursache Nummer eins aller körperlichen Einschränkungen. Neun Physiotherapie-Einzelsitzungen sind da nicht die nachhaltigste Art, sich mit einem so großen gesellschaftlichen Problem zu beschäftigen. Hier benötigen wir effiziente Werkzeuge, die das Selbstmanagement effizient. Das wäre für das Gesundheitssystem ein grosser Mehrwert.

Guillaume Christe, PhD, ist Physiotherapeut in privater Praxis und Maître d' Enseignement an der Haute Ecole de Santé Vaud (HESAV) in Lausanne. Er ist auf den muskuloskelettalen Bereich spezialisiert. Solidarität bedeutet für ihn Fairness und ein Gesundheitssystem, das für alle zugänglich ist, ohne Menschen aufgrund ihrer Lebensweise oder ihres Einkommens zu benachteiligen.