Welche Solidarität im Gesundheitssystem?

Daten- und Monitoringsolidarität sind die grosse Lücke im Solidaritätsdiskurs

Solidarität im Gesundheitssystem wird im Diskurs nicht mit den Möglichkeiten der Digitalisierung verbunden. Die Menschen in der Schweiz assoziieren sie mit dem gemeinsamen Tragen von Risiken und einem diskriminierungsfreien Zugang zu medizinischen Leistungen. Dass das Messen oder Teilen von Daten ebenfalls eine Solidaritätskomponente aufweisen kann, ist eine noch weitgehend unbekannte Vorstellung.

Welches Verständnis von Solidarität prägt den Diskurs über ein digitalisiertes Gesundheitssystem? Wir haben mit Gesundheitspraktikerinnen und Gesundheitspraktikern und Bürgerinnen und Bürgern gesprochen. Das Resultat: Der Solidaritätsbegriff wird nicht mit den Möglichkeiten der Digitalisierung in Verbindung gebracht. Im Vordergrund stehen traditionelle Vorstellungen des gemeinsamen Mittragens von Risiken. Neue Formen der Solidarität, die durch das Teilen und Erheben von Daten möglich werden, sind (noch) nicht im Alltagsbewusstsein angekommen.

Finanzielle Solidarität im Fokus

Solidarität im Gesundheitswesen ist heute vor allem finanzielle Solidarität. Alle – Männer und Frauen, Junge und Alte, Gesunde und Kranke – sollen unabhängig von ihren finanziellen Möglichkeiten diskriminierungsfreien Zugang zu ausreichenden und qualitativ guten Gesundheitsleistungen haben. Dieses Verständnis von Solidarität ist für Bürgerinnen und Bürger und Gesundheitsfachleute zentral und klar akzeptiert.

Bürgerinnen und Bürger realisieren gleichzeitig, dass in der Praxis - trotz eines Systems mit verschiedenen Unterstützungsmechanismen - Gesundheitsausgaben oder Prämienrechnungen bei einigen Personen ernsthafte finanzielle Sorgen auslösen können. Für Gesundheitsfachleute ist ausserdem die Verhaltenssolidarität von besonderer Bedeutung. Gemeint ist damit ein relativ breit gefasstes gegenseitiges Füreinander-Einstehen und Sorge tragen.

Solidarität im Gesundheitssystem ist «Zugang zu Gesundheitsleistungen und Mittragen, auch finanziell, für jeden und jede nach Bedürfnissen und Möglichkeiten.»

Solidaritätsgewinne der Digitalisierung in den Diskurs bringen

Die Möglichkeit, das Monitoren und Teilen von Daten, z.B. für die Forschung, für Public-Health-Interventionen oder innerhalb von Patientengruppen, als Akt der Solidarität zu begreifen, kommt in den spontan geäusserten Solidaritätsvorstellungen nicht vor. Die Daten- und die Monitoringsolidarität sind die grosse Lücke im Solidaritätsdiskurs. Den Menschen ist es schlicht nicht bewusst, dass auch die individuelle Vermessung der Gesundheit und die Auseinandersetzung mit den eigenen Gesundheitsdaten ein Akt von Eigenverantwortung und Verantwortung für andere sein kann – und damit ein Akt der Solidarität.

Eine Verbreitung des Wissens darum, dass in einem digitalisierten Gesundheitssystem die Möglichkeiten, zu sich selber zu schauen oder anderen zu helfen durch das Messen und Teilen von Daten gestärkt werden, ist ein guter Nährboden für die Akzeptanz und die Stärkung eines datafizierten Gesundheitssystems.