KI in der Medizin: «Der Mensch hat das letzte Wort»

Künstliche Intelligenz in der Medizin wird das Gesundheitssystem der Zukunft prägen. Wie der bewusste Umgang mit der Technik – zum Wohl der Patientinnen und Patienten – aussehen könnte, erklärt Zukunftsforscher Dr. Stephan Sigrist.

Text: Jessica Braun; Foto: w.i.r.e.

Herr Sigrist, die künstliche Intelligenz (KI) hinter der Anwendung ChatGPT ist aktuell ein Riesenthema. Verändert KI auch das Gesundheitswesen?  

Dr. Stephan Sigrist: Ja – bereits heute erkennen auf Bilder trainierte KI-Systeme zum Beispiel Tumore auf diagnostischen Aufnahmen schneller und präziser als Menschen. Und das Unispital Kopenhagen hat gerade in einer Studie gezeigt, dass seine KI bei einem Notruf einen Schlaganfall anhand der Stimme des Menschen identifizieren kann.

Lassen sich dank der Nutzung von KI in der Medizin Krankheiten vorhersagen?

Bei manchen Erkrankungen ist das tatsächlich schon möglich. Eine KI erfasst beispielsweise mit einem Gesichts-Scan, ob das Bluthochdruckrisiko eines Menschen erhöht ist. Ein anderer Algorithmus analysiert Bewegungsmuster von Kleinkindern. Bei Anomalien kann die KI so zu einer frühzeitigen Diagnose von neurologischen Erkrankungen und Entwicklungsstörungen beitragen.

Eine Maschine, die über Gesundheit urteilt – das klingt beunruhigend. 

Natürlich muss der Mensch bei der Diagnose das letzte Wort haben. Nicht zuletzt gibt es auch Grenzen bei komplexen Fragestellungen, bei denen die Mustererkennung durch Algorithmen nicht funktioniert.

Und: es braucht qualitätsgeprüfte Daten, auf denen die Systeme trainiert werden. KI im Gesundheitswesen ist darum ein Werkzeug, mit dem Ärztinnen und Ärzte oder Pflegepersonen Diagnosen leichter stellen oder Behandlungen effizienter planen können, sie ersetzt den Menschen nicht grundsätzlich.

Um die Qualität sicherzustellen, braucht es aber Kontrollinstanzen wie das 2022 vom Bund geschaffene nationale Kompetenznetzwerk für künstliche Intelligenz (CNAI) und Fachleute, die KI-Diagnosen überprüfen. Wir haben es schliesslich immer mit Individuen zu tun, deren genetische Veranlagungen variieren und die auf Medikamente unterschiedlich reagieren.

Darum sollten auch Patientinnen und Patienten die Anwendung von KI in der Medizin hinterfragen. Wenn wir jedoch einen bewussten Umgang damit finden, kann KI eines Tages die Mitarbeitenden in Spitälern entlasten – zugunsten von mehr Zeit für Patientinnen und Patienten. 

Beim Versorgen pflegebedürftiger Menschen kommen Pflegepersonal und Angehörige oft an ihre Grenzen – eine Situation, die auch für die Betroffenen schwierig ist. Ist KI hier eine Hilfe? 

Auch Pflegeroboter können den Menschen nicht ersetzen, aber dazu beitragen, Pflegebedürftige unabhängiger zu machen. Ich hatte vor längerer Zeit selbst einen schweren Unfall und wäre damals froh gewesen, nicht für jeden Toilettengang jemanden rufen zu müssen. Es werden bereits Systeme getestet, die zum Beispiel beim Umlagern von Patientinnen und Patienten mithelfen können.

2050 werden in der Schweiz 800 000 Menschen über 80 leben. Da sehe ich grosses Potenzial für unterstützende Anwendungen im Gesundheitswesen mittels KI. Entscheidend ist die Autonomie des Menschen, nicht das Unterordnen an automatisierte Prozesse.

In der Schweiz fehlen Psychotherapieplätze. Spätestens seit der Pandemie boomen Mental-Health-Apps. Wie effektiv ist der Austausch mit einer KI bei Ängsten oder Depressionen? 

Es gibt Studien, die positive Effekte zeigen. Diese können bei Triagen und ersten Einschätzungen helfen, ich bin aber skeptisch in Bezug auf die effektive Betreuung. Es macht einen Unterschied, ob man einen Dialog mit einem empathischen Wesen führt oder mit einem Algorithmus, der letztlich einen Entscheidungsbaum abspult.

Bei diesen Anwendungen gilt es Grundsatzfragen zu klären: Ist es ethisch vertretbar, verzweifelte Menschen mit einer Maschine allein zu lassen? Und wer trägt die Verantwortung, wenn es Betroffenen dadurch psychisch schlechter geht? Dennoch: Da die Zahl der Diagnosen zunimmt, wäre eine funktionierende Brückenlösung hilfreich und wünschenswert.

Wann wird es so weit sein, dass wir Dr. KI im Behandlungszimmer gegenüberstehen? 

Davon, KI systematisch und flächendeckend in allen Praxen und Kliniken einzusetzen, sind wir noch ziemlich weit entfernt. Wenn wir die Technologie richtig einsetzen, wird sie helfen die Qualität der Behandlungen steigern und gleichzeitig die Kosten senken – und zur Autonomie und der Gesundheitskompetenz der Menschen beitragen. Vorausgesetzt wir verfallen nicht den einseitigen und wenig realistischen Utopien oder Angstszenarien, die derzeit die Schlagzeilen dominieren. 

Über den Experten

Dr. Stephan Sigrist ist Gründer und Leiter des Think Tanks W.I.R.E. Er hat an der ETH Molekularbiologie studiert. Als interdisziplinärer Stratege analysiert er neue Entwicklungen und Trends, unter anderem für das Gesundheitswesen.

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