Die Antwort auf Chaos

Entrümpeln liegt nicht erst seit dem pandemiebedingten Hausarrest im Trend. Doch machen Ausmisten und Aufräumen die Menschen tatsächlich glücklicher oder dienen sie nur als Flucht vor der Langeweile?

Text: Nicole Krättli; Foto: Unsplash

Zuerst kamen die nach Farben geordneten Kleider im Schrank dran, dann die perfekt arrangierte Vorratskammer, bevor sich alle hinter die abgelaufenen Salben und Medikamente in der Apothekenschachtel machten. Gibt es überhaupt jemanden, der in den vergangenen zwölf Monaten der Pandemie nicht mindestens einmal seine Garderobe ausgemistet, seinen Aktenschrank sortiert und den Keller auf den Kopf gestellt hat? Entrümpeln und Aufräumen lagen aber schon vor Beginn des kollektiven Hausarrests im Trend. Unvergessen bleibt, wie die japanische Ordnungsmeisterin Marie Kondo in ihrer Netflix-Serie jeden Bleistift einzeln in die Hand genommen und die Besitzer gefragt hat: «Does it spark joy?» – Bereitet es Freude? Nein? Dann weg damit!

Wer schon einmal in einem radikal ausgemisteten, perfekt organisierten Zimmer gestanden hat, kennt dieses wohlige Gefühl der Zufriedenheit. Mag die Welt da draussen auch aus den Fugen geraten, immerhin herrschen im eigenen Heim Klarheit und Struktur. So überrascht es auch nicht, dass Aufräumcoaches wie Pilze aus dem Boden schiessen und unzählige Aufräumratgeber in Buch-, Artikel- und Videoformat versprechen, unser Leben zu verbessern und zu vereinfachen.

«Uns Menschen fällt es nicht leicht, Inaktivität auszuhalten»
Lukas Erpen, Psychologe und Psychotherapeut

Unordnung beeinflusst alle Lebensbereiche

Tatsächlich haben Forscher der US-amerikanischen University of California herausgefunden, dass Unordnung dazu führen kann, dass sich Menschen gestresst, verängstigt und deprimiert fühlen. Forscher einer Universität im kanadischen Montreal konnten zudem nachweisen, dass fokussiertes und stressfreies Arbeiten in einem ordentlichen Umfeld besser gelingt. Selbst auf zwischenmenschliche Beziehungen wirkt sich Unordnung offenbar aus. In einer US-amerikanischen Studie aus dem Jahr 2016 stellten Forscher nämlich fest, dass die Studienteilnehmenden die Emotionen von Filmfiguren schlechter interpretieren konnten, wenn sich diese vor einem unordentlichen Hintergrund befanden.

Doch vor allem in den letzten Monaten kam noch ein anderer Aspekt hinzu, ist der Schweizer Psychologe und Psychotherapeut Lukas Erpen überzeugt: «Entrümpeln ist eine Beschäftigung, die einem das Gefühl gibt, etwas geschafft zu haben. Uns Menschen fällt es nicht leicht, Inaktivität auszuhalten. So kann Aufräumen auch eine Flucht aus der Langeweile sein.» Psychologisch gesehen könne es jedoch in der Tat einen positiven Effekt haben, das eigene Heim gelegentlich zu entrümpeln und so wieder die Übersicht über den Haushalt sowie die gesamten Habseligkeiten zu gewinnen.

«Aus Stille und Langeweile können kreative Ideen entstehen»
Lukas Erpen

Raum für Kreativität schaffen

Das liegt auch daran, dass sich der Mensch ansonsten schnell überfordert fühlt. Zahlreiche Optionen zu haben, bringt viele Probleme mit sich. Der US-Psychologe Barry Schwartz spricht in diesem Zusammenhang von einem Auswahlparadox und erklärt, dass sich Menschen mit zu vielen Wahlmöglichkeiten unfrei und unzufrieden fühlen. Besonders die Gruppe der «Maximierer» – stets auf der Suche nach dem Optimum – leide darunter. Wer weniger besitzt, spürt die Qual der Wahl weniger und führt dadurch möglicherweise ein deutlich einfacheres Leben.

Regelmässige Ausmistaktionen können also durchaus zufriedener machen. Kritisch wird es erst dann, wenn die Ordnungsliebe in Zwang umschlägt. Wenn die Unterwäsche auf eine ganz bestimmte Art und Weise – und nur so – in der Schublade einsortiert werden muss, erklärt Lukas Erpen. Die Grenzen sind fliessend. «Problematisch ist dieses Verhalten, wenn die betroffene Person mehrere Stunden täglich die Wohnung putzt, Angst vor Schmutz hat, sich deswegen vielleicht sogar sozial isoliert», sagt Erpen. Doch selbst wenn sich die Freude am Entrümpeln und Saubermachen im Normbereich bewegt, rät der Psychologe dazu, die Inaktivität gelegentlich einfach zu ertragen: «Aus Stille und Langeweile können kreative Ideen entstehen. Es lohnt sich deshalb, sie ab und an auszuhalten.»

Aufräumen nach Marie Kondo

  • Räumen Sie nach Kategorien statt nach Zimmern auf. Widmen Sie sich zum Beispiel zuerst Ihren Kleidern, dann den Büchern usw.
  • Fokussieren Sie sich auf das, was Sie behalten möchten, anstatt darauf, was Sie wegwerfen wollen.
  • Überlegen Sie sich, was Sie künftig besitzen möchten, und nicht, welche Besitztümer Ihnen früher am Herzen gelegen haben.
  • Stellen Sie sicher, dass Sie beim Blick in die Schublade oder den Schrank alle Sachen sehen und somit den Überblick über Ihren Besitz behalten.

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